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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Aufbau nach dem Kriege, blieben sie in ihrer krittelnden, nörgelnden Negativität stecken, genau wie unter den Antikriegsdichtern jener Tage nur sehr wenigen nach dem Kriege noch ein wesentliches Werk gelungen ist. Es war die Zeit gewesen mit ihrem Fieber, die aus ihnen dichtete und diskutierte und politisierte, und wie jede Gruppe, die nur einer momentanen Konstellation und nicht einer gelebten Idee ihre Gemeinsamkeit verdankt, ist dieser ganze Kreis interessanter, begabter Menschen spurlos zerfallen, sobald der Widerstand, gegen den er wirkte – der Krieg –, vorüber war.
    Als den richtigen Ort wählte ich mir etwa eine halbe Stunde weit von Zürich einen kleinen Gasthof in Rüschlikon, von dessen Hügel man den ganzen See und nur klein und fern noch die Türme der Stadt überblickte. Hier brauchte ich nur diejenigen zu sehen, die ich zu mir bat, die wirklichen Freunde, und sie kamen, Rolland und Masereel. Hier konnte ich für mich arbeiten und die Zeit nützen, die unterdes unerbittlich ihren Gang ging. Der Eintritt Amerikas in den Krieg ließ allen, denen der Blick nicht verblendet und das Ohr nicht durch heimatliche Phrasen ertaubt war, die deutsche Niederlage als unvermeidlich erscheinen; als der deutsche Kaiser plötzlich ankündigte, er wolle von nun ab ›demokratisch‹ regieren, wußten wir, was die Glocke geschlagen hatte. Ich gestehe offen, daß wir Österreicher und Deutschen trotz der sprachlichen, der seelischen Zugehörigkeit ungeduldig waren, daß das Unvermeidliche, da es unvermeidlich geworden, sich beschleunige; und der Tag, da Kaiser Wilhelm, der geschworen, bis zum letzten Hauch von Mann und Roß zu kämpfen, über die Grenze flüchtete und Ludendorff, der seinem ›Sieg-Frieden‹ Millionen Menschen hingeopfert, mit seiner blauen Brille nach Schweden auswischte, hatte viel Tröstliches für uns. Denn wir glaubten – und die ganze Welt damals mit uns –, mit diesem Kriege sei ›der‹ Krieg für alle Zeiten erledigt, die Bestie gezähmt oder gar getötet, die unsere Welt verheert. Wir glaubten an Wilsons großartiges Programm, das gänzlich das unsere war, wir sahen im Osten in jenen Tagen, da die russische Revolution noch mit humanen und idealistischen Ideen Brautnacht feierte, einen ungewissen Lichtschein kommen. Wir waren töricht, ich weiß es. Aber wir waren es nicht allein. Wer jene Zeit erlebt, der erinnert sich, daß die Straßen aller Städte dröhnten vor Jubel, um Wilson als den Heilbringer der Erde zu empfangen, daß die feindlichen Soldaten sich umarmten und küßten; nie war so viel Gläubigkeit in Europa wie in den ersten Tagen des Friedens. Denn jetzt war doch endlich Raum auf Erden für das langversprochene Reich der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, jetzt oder nie die Stunde für das gemeinsame Europa, von dem wir geträumt. Die Hölle lag hinter uns, was konnte nach ihr uns noch erschrecken? Eine andere Welt war im Anbeginn. Und da wir jung waren, sagten wir uns: es wird die unsere sein, die Welt, die wir erträumt, eine bessere, humanere Welt.

Heimkehr nach Österreich
    Vom Standpunkt der Logik aus war das Törichtste, was ich nach dem Niederbruch der deutschen und österreichischen Waffen tun konnte: nach Österreich zurückzukehren, nach diesem Österreich, das doch nur noch als ein ungewisser, grauer und lebloser Schatten der früheren kaiserlichen Monarchie auf der Karte Europas dämmerte. Die Tschechen, die Polen, die Italiener, die Slowenen hatten ihre Länder weggerissen; was übrig blieb, war ein verstümmelter Rumpf, aus allen Adern blutend. Von den sechs oder sieben Millionen, die man zwang, sich ›Deutsch-Österreicher‹ zu nennen, drängte die Hauptstadt allein schon zwei Millionen frierend und hungrig zusammen; die Fabriken, die das Land früher bereichert, lagen auf fremdem Gebiet, die Eisenbahnen waren zu kläglichen Stümpfen geworden, der Nationalbank hatte man ihr Gold genommen und dafür die gigantische Last der Kriegsanleihe aufgebürdet. Die Grenzen waren noch unbestimmt, da der Friedenskongreß kaum begonnen hatte, die Verpflichtungen nicht festgelegt, kein Mehl, kein Brot, keine Kohle, kein Petroleum vorhanden; eine Revolution schien unausweichlich oder sonst eine katastrophale Lösung. Nach aller irdischen Voraussicht konnte dieses von den Siegerstaaten künstlich geschaffene Land nicht unabhängig leben und – alle Parteien, die sozialistische, die klerikalen, die nationalen schrien es aus einem Munde – wollte gar nicht

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