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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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erinnerte, wie viele Kranke und Verwundete man während des Krieges in diesen Skeletten von Waggons befördert. Immerhin, daß der Zug überhaupt vorwärtskam, bedeutete ein Wunder, allerdings ein langwieriges; jedesmal, wenn die ungeölten Räder weniger grell kreischten, fürchteten wir schon, daß der abgearbeiteten Maschine der Atem versagte. Für eine Strecke, die man sonst in einer Stunde Fahrt bewältigte, brauchte man vier oder fünf, und mit der Dämmerung fiel man ins völlige Dunkel. Die elektrischen Birnen waren zerschlagen oder gestohlen, wer etwas suchte, mußte mit Zündhölzern sich vorwärtstasten, und man fror nur deshalb nicht, weil man schon von Anfang an zu sechst oder acht dicht aneinandergepreßt saß. Aber bereits in der ersten Station drängten noch neue Menschen herein, immer mehr, und alle schon ermüdet durch das stundenlange Warten. Die Gänge pfropften sich voll, selbst auf den Trittbrettern hockten Leute in der halbwinterlichen Nacht, und außerdem hielt jeder noch sein Gepäck und sein Lebensmittelpaket ängstlich an sich gepreßt; keiner wagte im Dunkel auch nur für eine Minute etwas aus der Hand zu geben. Mitten aus dem Frieden war ich zurückgefahren in das schon beendet vermeinte Grauen des Krieges.
    Vor Innsbruck röchelte plötzlich die Lokomotive und konnte eine kleine Steigung trotz Pusten und Pfeifen nicht mehr bewältigen. Aufgeregt liefen die Beamten im Finstern mit ihren qualmenden Laternen hin und her. Es dauerte eine Stunde, ehe eine Hilfsmaschine heranschnaufte, und abermals benötigte man dann statt sieben siebzehn Stunden, ehe man nach Salzburg kam. Kein Träger weit und breit an der Station; schließlich boten sich ein paar zerlumpte Soldaten hilfreich an, das Gepäck bis zu einem Wagen zu schaffen, aber das Pferd der Droschke war so alt und schlecht genährt, daß es eher von der Deichsel aufrechtgehalten schien, als sie zu ziehen bestimmt. Ich fand nicht den Mut, diesem gespenstischen Tier noch eine Leistung zuzumuten, indem ich den Wagen mit den Koffern belastete, und ließ sie, freilich voll Sorge, sie nie mehr wiederzusehen, im Bahnhofsdepot.
    Ich hatte mir während des Krieges in Salzburg ein Haus gekauft, denn die Entfernung von meinen früheren Freunden wegen unserer gegensätzlichen Einstellung zum Kriege hatte in mir das Verlangen erweckt, nicht mehr in großen Städten und unter vielen Menschen zu leben; meine Arbeit hat später auch überall Nutzen von dieser zurückgezogenen Lebensform gehabt. Salzburg schien mir von allen österreichischen Kleinstädten nicht nur durch seine landschaftliche, sondern auch durch seine geographische Lage die idealste, weil am Rande Österreichs gelegen, zweieinhalb Eisenbahnstunden von München, fünf Stunden nach Wien, zehn Stunden nach Zürich oder Venedig und zwanzig nach Paris, also ein richtiger Abstoßpunkt nach Europa. Freilich war es damals noch nicht die durch ihre Festspiele berühmte (und im Sommer snobistisch sich gebärdende) Rendezvousstadt der ›Prominenten‹ (sonst hätte ich sie mir nicht als Arbeitsort gewählt), sondern ein antiquarisches, schläfriges, romantisches Städtchen am letzten Abhange der Alpen, die dort mit Bergen und Hügeln sanft in das deutsche Flachland übergehen. Der kleine bewaldete Hügel, auf dem ich wohnte, war gleichsam die letzte abklingende Welle dieses gewaltigen Bergzugs; unzugänglich für Autos und nur auf einem drei Jahrhunderte alten Kalvarienweg mit mehr als hundert Stufen zu erklimmen, bot er als Entgelt für diese Mühsal von seiner Terrasse einen zauberhaften Blick über Dächer und Giebel der vieltürmigen Stadt. Dahinter weitete sich das Panorama über die glorreiche Kette der Alpen (freilich auch auf den Salzberg bei Berchtesgaden, wo ein damals völlig unbekannter Mann namens Adolf Hitler mir bald gegenüber wohnen sollte). Das Haus selbst erwies sich als ebenso romantisch und wie unpraktisch. Im siebzehnten Jahrhundert Jagdschlößchen eines Erzbischofs und an die mächtige Festungsmauer angelehnt, war es zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts zur Rechten und zur Linken um je ein Zimmer erweitert worden; eine prächtige alte Tapete und eine bemalte Kegelkugel, mit der Kaiser Franz 1807 bei einem Besuche in Salzburg eigenhändig im langen Gang dieses unseres Hauses Kegel geschoben, nebst einigen alten Pergamenten der verschiedenen Grundrechte waren sichtbare Zeugen seiner immerhin stattlichen Vergangenheit.
    Daß dieses Schlößchen – es wirkte durch eine lange

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