Burning Wings 02 - Die Mächte
Der Morgen danach
Die ersten Sonnenstrahlen blinzelten vorwitzig durch das Fenster. Ihre Wärme kitzelte meine Nase. Seufzend öffnete ich die Augen, um sie gleich wieder zu schließen. Die halbe Nacht hatte ich hellwach in Eljakims Bett gelegen. Ich wollte nur noch schlafen, aber das schien ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.
Wie ein heftiger Sturm wirbelten die gestrigen Ereignisse immer wieder durch meinen Kopf und gönnten mir keine Ruhe. Schlimmer noch: Inzwischen fühlte sich mein Kopf an, als würde das aufgepeitschte Meer gegen meinen Verstand schlagen, um mich in der tobenden Gischt ständig mit neuen Fragen zu bombardieren. Dazu drehten sich meine Gedanken im Kreis. Und nach jeder weiteren Runde begann mein Kopf laut zu hämmern. Ich hatte Angst, irgendwann den Verstand zu verlieren. Noch mehr fürchtete ich die Antworten, die meine Fragen mit sich brachten.
Das untrügliche Gefühl , in einem nicht enden wollenden Albtraum gefangen zu sein, der seinen Höhepunkt noch lange nicht erreicht hatte, zerrte weiterhin an mir. Seltsamerweise tröstete mich dieser Gedanke jedoch mehr, als zu wissen, dass die Wirklichkeit mich in ihren Klauen hielt und so schnell nicht mehr losließ. Was war schrecklicher? Ein Albtraum oder eine verdrehte Realität, die mich an einen Traum erinnerte?
Zuerst wurde ich von dem Engel Oriphiel als Selbstmörder verurteilt, was unterm Strich bedeutete, ich durfte nicht mehr in den Kreislauf der Wiedergeburt zurückkehren. Eine der höchsten Strafen, die ein Engel über eine Seele verhängen konnte. Für mich hieß es, die Ewigkeit in der Himmelssphäre verbringen zu müssen, um vielleicht irgendwann die Möglichkeit zu erhalten, auf der Erde neu geboren zu werden. Nur leider wusste ich nicht , wann ein solcher Zeitpunkt kommen würde, und noch weniger, was ich tun musste, um diese Gnade erteilt zu bekommen. Als ich versuchte, diese Situation wohl oder übel zu akzeptieren, war Eljakim aufgetaucht. Eljakim, der perfekte Inbegriff eines Engels. Es lag weniger an dem, was ich in ihm sah, als vielmehr an dem, was er vor mir geheim hielt.
Perfektionismus schien eine herausragende Eigenschaft der Engel zu sein. Ein junger, gut aussehender Mann mit den richtigen körperlichen Proportionen und faszinierendem Charisma. Ihm gegenüber schien ich klein und unbedeutend, wie das kleine, hässliche Entlein in dem Kindermärchen. Schon meine einfache Kleidung hob mich von ihm ab, während er das perfekte Sinnbild eines edlen Prinzen darstellte.
Eljakim erklärte mir, er wäre mein künftiger Wächter. Eine Bezeichnung für den Führer einer verlorenen Seele wie mich. Aber anders als erwartet blieb ich nicht in Agnon – der Stadt der Arbeiter –, sondern Eljakim führte mich in die Hauptstadt Ephis.
Von diesem Moment an wurde es ziemlich verworren. Der Herrscherpalast entpuppte sich als ein Ort der Lügen und Intrigen, wie Eljakim ihn betitelte. Darüber hinaus war Eljakim nicht der, der er vorgab zu sein. Das war für mich der erste Schock am gestrigen Tag gewesen.
Abgesehen davon, hatte ich heimlich ein intimes Gespräch zwischen ihm und seinem Freund Uriel belauscht. Vieles, was ich darin erfuhr, hatte für mich keinen Sinn ergeben. Was ich jedoch nur kurz darauf in einem weiteren Gespräch zwischen Eljakim und der Geliebten des Herrschers der Himmelssphäre mit anhörte, gewährte mir eine ganz neue Sicht der Dinge.
Mittlerweile kannte ich Eljakims wahren Namen, den er mir verschwiegen hatte. Raphael wurde er genannt. Aber dieser Name war ihm aberkannt worden. Vor zwei Jahren hatte er an einer Palastverschwörung teilgenommen, war gefasst und eingekerkert worden. Als die Bedrohung vorüber war, hatte der Herrscher Metatron über ihn Gericht gehalten. Sein Urteil lautete, dass Eljakim seinen Titel Erzengel und seinen Namen ablegen musste. Seine Strafe bestand seitdem darin, Seelen von der Erde als Wächter zur Seite zu stehen. Eine undankbare Aufgabe in den Augen der Engel. Ich dagegen schätze mich glücklich, Eljakim dadurch besser kennenzulernen. Denn trotz seiner Verschwiegenheit fand ich ihn sehr interessant. In manchen Augenblicken kam er mir so vertraut vor, als wären wir schon immer Freunde gewesen, im nächsten war er so undurchschaubar wie eine Mauer.
Der zweite Schock des gestrigen Tages war die Offenbarung, dass Eljakim weiterhin nicht nach den Spielregeln des Herrschers Metatron spielte. Laut seiner eigenen Worten beugte er sich keinem Verräter; woraus in seinen Augen
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