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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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übergeordnete Organisation – den wirklichen, den totalen Völkerbund – nicht schuf und nur den andern Teil seines Programms, die Selbständigkeit der kleinen Staaten, verwirklichte, erzeugte man statt Beruhigung ständige Spannung. Denn nichts ist gefährlicher als die Großmannssucht der Kleinen, und das erste der kleinen Staaten, kaum daß sie geschaffen wurden, war, gegeneinander zu intrigieren und sich um winzige Landstriche zu streiten, Polen gegen Tschechen, Ungarn gegen Rumänen, Bulgaren gegen Serben, und als der Schwächste von allen in diesen Rivalitäten stand das winzige Österreich gegen das übermächtige Deutschland. Dieses zerstückelte, verstümmelte Land, dessen Herrscher einst über Europa geschaltet, war, ich muß es immer wiederholen, der Stein in der Mauer. Ich wußte, was alle diese Menschen in der englischen Millionenstadt um mich nicht wahrnehmen konnten, daß mit Österreich die Tschechoslowakei fallen müßte und der Balkan dann Hitler offen zur Beute liegen, daß der Nationalsozialismus mit Wien, dank dessen besonderer Struktur, den Hebel in die harte Hand bekommen würde, mit dem er ganz Europa auflockern und aus den Angeln heben könnte. Nur wir Österreicher wußten, mit welcher von Ressentiment gestachelten Gier es Hitler nach Wien trieb, der Stadt, die ihn im niedersten Elend gesehen und in die er einziehen wollte als Triumphator. Jedesmal darum, wenn ich zu flüchtigem Besuch nach Österreich und dann wieder zurück über die Grenze kam, atmete ich auf: ›Diesmal noch nicht‹, und sah zurück, als ob es das letztemal gewesen sei. Ich sah die Katastrophe kommen, unvermeidlich; Hunderte Male am Morgen in all jenen Jahren, während die andern zuversichtlich nach der Zeitung griffen, habe ich mich innerlich vor der Schlagzeile gefürchtet: Finis Austriae. Ach, wie hatte ich mich selbst betrogen, als ich mir vortäuschte, ich hätte mich längst losgelöst von seinem Schicksal! Ich litt von ferne seine langsame und fiebrige Agonie täglich mit – unendlich mehr als meine Freunde im Lande, die sich selber betrogen mit patriotischen Demonstrationen, und deren einer dem andern täglich versicherte: »Frankreich und England können uns nicht fallen lassen. Und vor allem Mussolini wird es nie erlauben.« Sie glaubten an den Völkerbund, an die Friedensverträge wie Kranke an Medizin mit schönen Etiketten. Sie lebten sorglos und glücklich dahin, indes ich, der deutlicher sah, mir das Herz zersorgte.
    Auch meine letzte Reise nach Österreich war durch nichts anderes begründet als durch einen solchen spontanen Ausbruch innerer Angst vor der immer näher kommenden Katastrophe. Ich war im Herbst 1937 in Wien gewesen, meine alte Mutter zu besuchen, und hatte für längere Zeit dort nichts zu erledigen; nichts Dringliches rief mich hin. An einem Mittag, wenige Wochen später – es muß gegen Ende November gewesen sein – ging ich über Regent Street nach Hause und kaufte mir im Vorübergehen den ›Evening Standard‹. Es war der Tag, an dem Lord Halifax nach Berlin flog, um zum erstenmal zu versuchen, mit Hitler persönlich zu verhandeln. In dieser Ausgabe des ›Evening Standard‹ waren nun auf der ersten Seite – ich sehe sie noch optisch vor mir, der Text stand fettgedruckt auf der rechten Seite – die einzelnen Punkte aufgezählt, über die Halifax mit Hitler zu einem Einverständnis kommen wollte. Unter ihnen befand sich auch der Paragraph Österreich. Und zwischen den Zeilen fand ich darin oder glaubte ich zu lesen: die Preisgabe Österreichs, denn was konnte eine Aussprache mit Hitler anderes bedeuten? Wir Österreicher wußten doch, in diesem Punkte würde Hitler nie nachgeben. Merkwürdigerweise war diese programmatische Aufzählung der Diskussionsthemen einzig in jener Mittagsausgabe des ›Evening Standard‹ enthalten und aus allen späteren Ausgaben derselben Zeitung am Spätnachmittag schon wieder spurlos verschwunden. (Wie ich später gerüchtweise hörte, war angeblich diese Information der Zeitung von der italienischen Gesandtschaft zugeschanzt worden, denn vor nichts fürchtete sich Italien 1937 noch mehr als vor einer Einigung Deutschlands und Englands hinter seinem Rücken.) Wieviel an dieser – von der großen Menge wohl unbemerkten – Notiz in dieser einen Ausgabe des ›Evening Standard‹ sachlich richtig oder unrichtig gewesen sein mag, weiß ich nicht zu beurteilen. Ich weiß nur, wie maßlos ich persönlich erschrak bei dem Gedanken, es werde

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