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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Beute fiel! Jetzt sank die Maske. Da die andern Staaten offen ihre Furcht gezeigt, brauchte sich die Brutalität keinerlei moralische Hemmung mehr aufzuerlegen, sie bediente sich – was galt noch England, was Frankreich, was die Welt? – keiner heuchlerischen Vorwände mehr von ›Marxisten‹, die politisch ausgeschaltet werden sollten. Jetzt wurde nicht mehr bloß geraubt und gestohlen, sondern jedem privaten Rachegelüst freies Spiel gelassen. Mit nackten Händen mußten Universitätsprofessoren die Straßen reiben, fromme weißbärtige Juden wurden in den Tempel geschleppt und von johlenden Burschen gezwungen, Kniebeugen zu machen und im Chor ›Heil Hitler‹ zu schreien. Man fing unschuldige Menschen auf der Straße wie Hasen zusammen und schleppte sie, die Abtritte der SA-Kasernen zu fegen; alles, was krankhaft schmutzige Haßphantasie in vielen Nächten sich orgiastisch ersonnen, tobte sich am hellen Tage aus. Daß sie in die Wohnungen einbrachen und zitternden Frauen die Ohrgehänge abrissen – dergleichen mochte sich bei Städteplünderungen vor Hunderten Jahren in mittelalterlichen Kriegen ebenfalls ereignet haben; neu aber war die schamlose Lust des öffentlichen Quälens, die seelischen Marterungen, die raffinierten Erniedrigungen. All dies ist verzeichnet nicht von einem, sondern von Tausenden, die es erlitten, und eine ruhigere, nicht wie unsere moralisch schon ermüdete Zeit wird mit Schaudern einst lesen, was in dieser Stadt der Kultur im zwanzigsten Jahrhundert ein einziger haßwütiger Mensch verbrochen. Denn das ist Hitlers diabolischster Triumph inmitten seiner militärischen und politischen Siege – diesem einen Manne ist es gelungen, durch fortwährende Übersteigerung jeden Rechtsbegriff abzustumpfen. Vor dieser ›Neuen Ordnung‹ hatte die Ermordung eines einzigen Menschen ohne Gerichtsspruch und äußere Ursache noch eine Welt erschüttert, Folterung galt für undenkbar im zwanzigsten Jahrhundert, Expropriierungen nannte man noch klar Diebstahl und Raub. Jetzt aber, nach den immer erneut sich folgenden Bartholomäusnächten, nach den täglichen Zutodefolterungen in den Zellen der SA und hinter den Stacheldrähten, was galt da noch ein einzelnes Unrecht, was irdisches Leiden? 1938, nach Österreich, war unsere Welt schon so sehr an Inhumanität, an Rechtlosigkeit und Brutalität gewöhnt wie nie zuvor in Hunderten Jahren. Während vordem allein, was in dieser unglückseligen Stadt Wien geschehen, genügt hätte zur internationalen Ächtung, schwieg das Weltgewissen im Jahre 1938 oder murrte nur ein wenig, ehe es vergaß und verzieh.

    Diese Tage, da täglich die Hilfeschreie aus der Heimat gellten, da man nächste Freunde verschleppt, gefoltert und erniedrigt wußte und für jeden hilflos zitterte, den man liebte, gehören für mich zu den furchtbarsten meines Lebens. Und ich schäme mich nicht zu sagen – so hat die Zeit unser Herz pervertiert –, daß ich nicht erschrak, nicht klagte, als die Nachricht vom Tode meiner alten Mutter kam, die wir in Wien zurückgelassen hatten, sondern daß ich im Gegenteil sogar eine Art Beruhigung empfand, sie vor allen Leiden und Gefahren nun gesichert zu wissen. Vierundachtzig Jahre alt, beinahe völlig ertaubt, hatte sie eine Wohnung in unserem Familienhause inne, durfte somit selbst nach den neuen ›Ariergesetzen‹ vorläufig nicht delogiert werden, und wir hatten gehofft, sie nach einiger Zeit doch auf irgendeine Weise ins Ausland bringen zu können. Gleich eine der ersten Wiener Verfügungen hatte sie hart getroffen. Sie war mit ihren vierundachtzig Jahren schon schwach auf den Beinen und gewohnt, wenn sie ihren täglichen kleinen Spaziergang machte, immer nach fünf oder zehn Minuten mühseligen Gehens auf einer Bank an der Ringstraße oder im Park auszuruhen. Noch war Hitler nicht acht Tage Herr der Stadt, so kam schon das viehische Gebot, Juden dürften sich nicht auf eine Bank setzen – eines jener Verbote, die sichtlich ausschließlich zu dem sadistischen Zweck des hämischen Quälens ersonnen waren. Denn Juden zu berauben, das hatte immerhin noch Logik und verständlichen Sinn, weil man mit dem Raubertrag der Fabriken, der Wohnungseinrichtungen, der Villen und mit den freigewordenen Stellen die eigenen Leute füttern, die alten Trabanten belohnen konnte; schließlich dankt die Bildergalerie Görings ihre Pracht hauptsächlich dieser großzügig geübten Praxis. Aber einer alten Frau oder einem erschöpften Greis zu verweigern,

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