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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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teilnahm, erkannte ich, daß wir hier nicht fremd waren und daß hier der Glaube an die geistige Einheit, dem wir das Beste unseres Lebens zugewendet, noch lebte und galt und wirkte, daß also in unserer Zeit der neuen Geschwindigkeiten auch der Ozean nicht mehr trennte. Eine neue Aufgabe war da statt der alten: die Gemeinsamkeit, die wir erträumten, in weiterem Maß und in kühneren Zusammenfassungen aufzubauen. Hatte ich Europa verlorengegeben seit jenem letzten Blick auf den kommenden Krieg, so begann ich unter dem Kreuz des Südens wieder zu hoffen und zu glauben.
    Ein nicht weniger mächtiger Eindruck, eine nicht geringere Verheißung ward mir Brasilien, dieses von der Natur verschwenderisch beschenkte Land mit der schönsten Stadt auf Erden, dieses Land, dessen riesigen Raum noch heute nicht die Bahnen, nicht die Straßen und kaum das Flugzeug ganz zu durchmessen vermögen. Hier war die Vergangenheit sorgsamer bewahrt als in Europa selbst, hier war noch nicht die Verrohung, die der erste Weltkrieg mit sich gebracht, in die Sitten, in den Geist der Nationen eingedrungen. Friedlicher lebten hier die Menschen zusammen, höflicher, nicht so feindselig wie bei uns war der Verkehr selbst zwischen den verschiedensten Rassen. Hier war nicht durch absurde Theorien von Blut und Stamm und Herkunft der Mensch abgeteilt vom Menschen, hier konnte man, so fühlte man mit merkwürdiger Ahnung voraus, noch friedlich leben, hier war der Raum, um dessen ärmste Quentchen in Europa die Staaten kämpften und die Politiker quengelten, in ungemessener Fülle der Zukunft bereit. Hier wartete das Land noch auf den Menschen, daß er es nutze und mit seiner Gegenwart erfülle. Hier konnte, was Europa an Zivilisation geschaffen, in neuen und anderen Formen sich großartig fortsetzen und entwickeln. Ich hatte, das Auge beglückt durch die tausendfältige Schönheit dieser neuen Natur, einen Blick in die Zukunft getan.
    Aber reisen und selbst weithin reisen bis unter andere Sterne und in andere Welten hieß nicht Europa und der Sorge um Europa entfliehen. Fast scheint es boshafte Rache der Natur an dem Menschen, daß alle die Errungenschaften der Technik, dank derer er die geheimnisvollsten ihrer Gewalten in seine Hände gerafft, ihm gleichzeitig die Seele verstören. Keinen schlimmeren Fluch hat die Technik über uns gebracht, als daß sie uns verhindert, auch nur für einen Augenblick der Gegenwart zu entfliehen. Frühere Geschlechter konnten sich in Katastrophenzeiten zurückflüchten in Einsamkeit und Abseitigkeit; uns erst war es vorbehalten, alles in der gleichen Stunde und Sekunde wissen und empfinden zu müssen, was irgendwo Schlimmes auf unserem Erdball geschieht. Wie weit ich mich auch entfernte von Europa, sein Schicksal ging mit mir. In Pernambuco landend des Nachts, das Kreuz des Südens über dem Haupt, dunkelfarbige Menschen um mich in den Straßen, sah ich angeschlagen auf einem Blatt die Nachricht über das Bombardement von Barcelona und die Erschießung eines spanischen Freundes, mit dem ich vor einigen Monaten gemeinsame gute Stunden verbracht. In Texas, zwischen Houston und einer anderen Petroleumstadt im Pullman-Wagen hinsausend, hörte ich plötzlich jemanden heftig deutsch schreien und toben: ein ahnungsloser Mitreisender hatte das Radio des Zuges auf die Welle Deutschland gestellt, und so mußte ich, hinrollend im Zug durch die Ebene von Texas, einer Brandrede Hitlers lauschen. Es gab kein Entfliehen, nicht tags und nicht nachts; immer mußte ich mit quälender Sorge an Europa denken und innerhalb Europas immer an Österreich. Vielleicht scheint es kleinlicher Patriotismus, daß in dem ungeheuren Komplex der Gefahr, der von China bis hinüber an den Ebro und Manzanares reicht, mich gerade das Schicksal Österreichs besonders beschäftigte. Aber ich wußte, daß das Schicksal ganz Europas an dieses kleine Land – zufällig mein Heimatland – gebunden war. Wenn man rückblickend versucht, die Fehler der Politik nach dem Weltkriege aufzuweisen, so wird man als den größten erkennen, daß die europäischen ebenso wie die amerikanischen Politiker den klaren, einfachen Plan Wilsons nicht durchgeführt, sondern verstümmelt haben. Seine Idee war, den kleinen Nationen Freiheit und Selbständigkeit zu geben, aber er hatte richtig erkannt, daß diese Freiheit und Selbständigkeit nur haltbar sein könnte innerhalb einer Bindung aller großen und kleinen Staaten zu einer übergeordneten Einheit. Indem man diese

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