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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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also, die ich in Wien nie berührt. Ich saß am selben Tisch mit schweren Trinkern und Homosexuellen und Morphinisten, ich schüttelte – sehr stolz – die Hand einem ziemlich bekannten und abgestraften Hochstapler (der später seine Memoiren veröffentlichte und auf diese Weise zu uns Schriftstellern kam). Alles, was ich in den realistischen Romanen kaum geglaubt hatte, schob und drängte sich in den kleinen Wirtsstuben und Cafés, in die ich eingeführt wurde, zusammen, und je schlimmer eines Menschen Ruf war, um so begehrlicher mein Interesse, seinen Träger persönlich kennenzulernen. Diese besondere Liebe oder Neugier für gefährdete Menschen hat mich übrigens mein ganzes Leben lang begleitet; selbst in den Jahren, wo es sich geziemt hätte, schon wählerischer zu werden, haben meine Freunde mich oft gescholten, mit was für amoralischen, unverläßlichen und wahrhaft kompromittierenden Leuten ich umging. Vielleicht ließ mir gerade die Sphäre der Solidität, aus der ich kam, und die Tatsache, daß ich selbst bis zu einem gewissen Grade mich mit dem Komplex der ›Sicherheit‹ belastet fühlte, alle jene faszinierend erscheinen, die mit ihrem Leben, ihrer Zeit, ihrem Geld, ihrer Gesundheit, ihrem guten Ruf verschwenderisch und beinahe verächtlich umgingen, diese Passionierten, diese Monomanen des bloßen Existierens ohne Ziel, und vielleicht merkt man in meinen Romanen und Novellen diese Vorliebe für alle intensiven und unbändigen Naturen. Dazu kam noch der Reiz des Exotischen, des Ausländischen; fast jeder von ihnen brachte meinem Neugierdrang ein Geschenk aus fremder Welt. In dem Zeichner E. M. Lilien, dem Sohn eines armen orthodoxen Drechslermeisters aus Drohobycz, begegnete ich zum erstenmal einem wirklichen Ostjuden und damit einem Judentum, das mir bisher in seiner Kraft, seinem zähen Fanatismus unbekannt gewesen. Ein junger Russe übersetzte mir die schönsten Stellen der damals in Deutschland noch unbekannten Brüder Karamasow, eine junge Schwedin zeigte mir zum erstenmal Bilder von Munch; ich trieb mich um in den Ateliers bei (allerdings schlechten) Malern, um ihre Technik zu beobachten, ein Gläubiger führte mich in einen spiritistischen Zirkel – in tausend Formen und Vielfältigkeiten spürte ich das Dasein und wurde nicht satt. Die Intensität, die sich im Gymnasium nur in den bloßen Formen, im Reim und Vers und Wort ausgelebt, warf sich jetzt gegen die Menschen; von früh bis nachts war ich in Berlin mit immer neuen und immer anderen beisammen, begeistert, enttäuscht, sogar geprellt von ihnen. Ich glaube, ich habe in zehn Jahren nicht so viel geistiger Geselligkeit gefrönt wie in diesem einen knappen Semester in Berlin, dem ersten der vollkommenen Freiheit.
    Daß diese ungemeine Vielfalt der Anregung eine außerordentliche Steigerung meiner Produktionslust bedeuten mußte, schien eigentlich logisch. In Wirklichkeit ereignete sich genau das Gegenteil; mein von der geistigen Exaltierung im Gymnasium zuerst steil hochgetriebenes Selbstbewußtsein schmolz bedenklich ein. Vier Monate nach der Veröffentlichung verstand ich nicht mehr, woher ich den Mut genommen, jenen unreifen Gedichtband herauszugeben; ich empfand die Verse noch immer als gutes, geschicktes, zum Teil sogar bemerkenswertes Kunsthandwerk, entstanden aus einer ehrgeizigen Spielfreude an der Form, aber unecht in ihrer Sentimentalität. Ebenso spürte ich seit dieser Berührung mit der Wirklichkeit bei meinen ersten Novellen einen Geruch von parfümiertem Papier; in totaler Unkenntnis der Realitäten geschrieben, verwerteten sie eine jeweils abgeschaute Technik in zweiter Hand. Ein Roman, den ich bis auf das letzte Kapitel fertig nach Berlin gebracht hatte, um meinen Verleger zu beglücken, heizte bald den Ofen, denn mein Glaube an die Kompetenz meiner Gymnasialklasse hatte einen harten Stoß bekommen mit diesem ersten Blick ins wirkliche Leben. Mir war, als ob ich in der Schule um ein paar Jahrgänge zurückversetzt wäre. Tatsächlich habe ich nach meinem ersten Versband eine Pause von sechs Jahren eingeschaltet, ehe ich einen zweiten veröffentlichte, und erst nach drei oder vier Jahren das erste Prosabuch publiziert; dem Rate Dehmels, dem ich noch jetzt dafür dankbar bin, entsprechend, nützte ich meine Zeit, um aus fremden Sprachen zu übersetzen, was ich noch heute für die beste Möglichkeit für einen jungen Dichter halte, den Geist der eigenen Sprache tiefer und schöpferischer zu begreifen. Ich übertrug die

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