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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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im Verlauf eines Semesters aufgesucht, einmal, um die Vorlesungen zu inskribieren, und das zweitemal, um mir ihren vorgeblichen Besuch testieren zu lassen. Was ich in Berlin suchte, waren weder Kollegien noch Professoren, sondern eine höhere und noch vollkommenere Art der Freiheit. In Wien fühlte ich mich immerhin noch an das Milieu gebunden. Die literarischen Kollegen, mit denen ich verkehrte, stammten fast alle aus der gleichen jüdisch-bürgerlichen Schicht wie ich selbst; in der engen Stadt, wo jeder von jedem wußte, blieb ich unweigerlich der Sohn aus einer ›guten‹ Familie, und ich war müde der sogenannten ›guten‹ Gesellschaft; ich wollte sogar einmal ausgesprochen ›schlechte‹ Gesellschaft, eine ungezwungene, unkontrollierte Form der Existenz. Wer in Berlin an der Universität Philosophie dozierte, hatte ich nicht einmal im Verzeichnis nachgesehen; mir genügte es zu wissen, daß die ›neue‹ Literatur sich dort aktiver, impulsiver gebärdete als bei uns, daß man dort Dehmel und anderen Dichtern der jungen Generation begegnen konnte, daß dort ununterbrochen Zeitschriften, Kabaretts, Theater gegründet wurden, kurzum, daß dort, wie man auf Wienerisch sagte, ›etwas los war‹.
    In der Tat kam ich nach Berlin in einem sehr interessanten, historischen Augenblick. Seit 1870, da Berlin aus der recht nüchternen, kleinen und durchaus nicht reichen Hauptstadt des Königreichs Preußen die Residenzstadt des deutschen Kaisers geworden war, hatte der unscheinbare Ort an der Spree einen mächtigen Aufschwung genommen. Aber noch war Berlin die Führung in künstlerischen und kulturellen Angelegenheiten nicht zugefallen; München galt mit seinen Malern und Dichtern als die eigentliche Zentrale der Kunst, die Dresdner Oper dominierte in der Musik, die kleinen Residenzen zogen wertvolle Elemente an sich; vor allem aber war Wien mit seiner hundertjährigen Tradition, seiner konzentrierten Kraft, seinem natürlichen Talent Berlin bisher noch immer weit überlegen geblieben. Jedoch in den letzten Jahren begann sich mit dem rapiden wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands das Blatt zu wenden. Die großen Konzerne, die vermögenden Familien zogen nach Berlin, und neuer Reichtum, gepaart mit einem starken Wagemut, eröffnete der Architektur, dem Theater hier größere Möglichkeiten als in einer anderen großen deutschen Stadt. Die Museen vergrößerten sich unter dem Protektorat Kaiser Wilhelms, das Theater fand in Otto Brahm einen vorbildlichen Leiter, und gerade, daß keine richtige Tradition, keine jahrhundertealte Kultur vorhanden war, lockte die Jugend zum Versuche an. Denn Tradition bedeutet immer auch Hemmung. Wien, an das Alte gebunden, seine eigene Vergangenheit vergötternd, erwies sich vorsichtig und abwartend gegen junge Menschen und verwegene Experimente. In Berlin aber, das sich rasch und in persönlicher Form gestalten wollte, suchte man das Neue. So war es nur natürlich, daß die jungen Menschen aus dem ganzen Reiche und sogar aus Österreich sich nach Berlin drängten, und die Erfolge gaben den Begabten unter ihnen recht; der Wiener Max Reinhardt hätte in Wien zwei Jahrzehnte lang geduldig warten müssen, um die Position zu erlangen, die er in Berlin in zwei Jahren eroberte.
    Es war just in diesem Zeitpunkt des Überganges von der bloßen Hauptstadt zur Weltstadt, daß ich in Berlin eintraf. Noch war der erste Eindruck nach der satten und von großen Ahnen vererbten Schönheit Wiens eher enttäuschend; der entscheidende Zug nach dem Westen, wo sich die neue Architektur statt der etwas protzigen Tiergartenhäuser entfalten sollte, hatte eben erst begonnen, noch bildeten die baulich öde Friedrichstraße und Leipziger Straße mit ihrem ungeschickten Prunk das Zentrum der Stadt. Vororte wie Wilmersdorf, Nikolassee, Steglitz waren nur mit den Trambahnen mühsam zu erreichen, die Seen der Mark mit ihrer herben Schönheit erforderten in jener Zeit noch eine Art Expedition. Außer den alten ›Unter den Linden‹ gab es kein richtiges Zentrum, keinen ›Korso‹ wie bei uns am Graben, und vollkommen fehlte dank der alten preußischen Sparsamkeit eine durchgängige Eleganz. Die Frauen gingen in selbstgeschneiderten, geschmacklosen Kleidern ins Theater, überall vermißte man die leichte, geschickte und verschwenderische Hand, die in Wien wie in Paris aus einem billigen Nichts eine bezaubernde Überflüssigkeit zu schaffen verstand. In jeder Einzelheit fühlte man friderizianische, knickerige

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