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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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zufällig an der entscheidenden Stelle steht, von den Ereignissen sieht, welche das Antlitz der Welt und sein eigenes Leben verändern. Alles, was ich erlebte, war: ich hatte abends eine Verabredung mit der Ballettregisseurin der Oper, Margarete Wallmann, in einem Ringstraßencafé. Ich ging also zu Fuß zur Ringstraße
und wollte sie gedankenlos überschreiten. Da traten plötzlich ein paar Leute in alten, rasch zusammengerafften Uniformen mit Gewehren auf mich zu und fragten, wohin ich wollte. Als ich ihnen erklärte, ich wollte in jenes Café J., ließen sie mich ruhig durch. Ich wußte weder, warum plötzlich solche Gardisten auf der Straße standen, noch was sie eigentlich bezweckten. In Wirklichkeit wurde damals schon seit mehreren Stunden erbittert in den Vorstädten geschossen und gekämpft, aber in der inneren Stadt hatte niemand eine Ahnung. Erst als ich abends ins Hotel kam und meine Rechnung bezahlen wollte, weil es meine Absicht war, am nächsten Morgen nach Salzburg zurückzureisen, sagte mir der Portier, er fürchte, das werde nicht möglich sein, die Bahnen verkehrten nicht. Es sei Eisenbahnerstreik, und außerdem gehe in den Vorstädten etwas vor.
    Am nächsten Tage brachten die Zeitungen ziemlich undeutliche Mitteilungen über einen Aufstand der Sozialdemokraten, der aber schon mehr oder minder niedergeschlagen sei. In Wirklichkeit hatte der Kampf an diesem Tage erst seine volle Kraft erreicht, und die Regierung entschloß sich, nach den Maschinengewehren auch Kanonen gegen die Arbeiterhäuser einzusetzen. Aber auch die Kanonen vernahm ich nicht. Wäre damals ganz Österreich besetzt worden, sei es von den Sozialisten oder Nationalsozialisten oder Kommunisten, ich hätte es ebensowenig gewußt wie seinerzeit die Leute in München, die am Morgen aufwachten und erst aus den ›Münchener Neuesten Nachrichten‹ erfuhren, daß ihre Stadt in den Händen Hitlers war. Alles ging im inneren Kreise der Stadt ebenso ruhig und regelmäßig weiter wie sonst, während in den Vorstädten der Kampf wütete, und wir glaubten töricht den offiziellen Mitteilungen, daß alles schon beigelegt und erledigt sei. In der Nationalbibliothek, wo ich etwas nachzusehen hatte, saßen die Stu
denten und lasen und studierten wie immer, alle Geschäfte waren offen, die Menschen gar nicht erregt. Erst am dritten Tag, als alles vorüber war, erfuhr man stückweise die Wahrheit. Kaum daß die Bahnen wieder verkehrten, am vierten Tag, fuhr ich morgens nach Salzburg zurück, wo mich zwei, drei Bekannte, die ich auf der Straße traf, sofort mit Fragen bestürmten, was eigentlich in Wien geschehen sei. Und ich, der ich doch der ›Augenzeuge‹ der Revolution gewesen, mußte ihnen ehrlich sagen: »Ich weiß es nicht. Am besten, ihr kauft eine ausländische Zeitung.«
    Sonderbarerweise fiel am nächsten Tag im Zusammenhang mit diesen Ereignissen eine Entscheidung in meinem eigenen Leben. Ich war nachmittags von Wien in mein Haus nach Salzburg zurückgekommen, hatte dort Stöße von Korrekturen und Briefen vorgefunden und bis tief in die Nacht gearbeitet, um alle Rückstände zu beseitigen. Am nächsten Morgen, ich lag noch im Bett, klopfte es an die Tür; unser braver alter Diener, der mich sonst nie weckte, wenn ich nicht ausdrücklich eine Stunde bestimmt hatte, erschien mit bestürztem Gesicht. Ich möchte hinunterkommen, es seien Herren von der Polizei da und wünschten mich zu sprechen. Ich war etwas verwundert, nahm den Schlafrock und ging in das untere Stockwerk. Dort standen vier Polizisten in Zivil und eröffneten mir, sie hätten Auftrag, das Haus zu durchsuchen; ich solle sofort alles abliefern, was an Waffen des Republikanischen Schutzbundes im Hause verborgen sei.
    Ich muß gestehen, daß ich im ersten Augenblick zu verblüfft war, um irgend etwas zu antworten. Waffen des Republikanischen Schutzbundes in meinem Hause? Die Sache war zu absurd. Ich hatte nie einer Partei angehört, mich nie um Politik gekümmert. Ich war viele Monate nicht in Salzburg gewesen, und abgesehen von all dem wäre es das lächerlichste Ding von
der Welt gewesen, ein Waffendepot gerade in diesem Hause anzulegen, das außerhalb der Stadt auf einem Berge lag, so daß man jeden, der ein Gewehr oder eine Waffe trug, unterwegs beobachten konnte. Ich antwortete also nichts als ein kühles: »Bitte, sehen Sie nach.« Die vier Detektive gingen durch das Haus, öffneten einige Kästen, klopften an ein paar Wände, aber es war mir sofort klar an der lässigen

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