Die Welt von Gestern
ganze Reihe von Bekannten, die sonst häufig kamen, ausgeblieben waren. Man stand auf gefährdetem Posten.
Ich dachte damals noch nicht daran, Salzburg endgültig zu verlassen, aber ich entschloß mich lieber als sonst, den Winter im Ausland zu verbringen, um all diesen kleinen Spannungen zu entgehen. Doch ich ahnte nicht, daß es schon eine Art von Abschied war, als ich im Oktober 1933 mein schönes Haus verließ.
Meine Absicht war gewesen, den Januar und Februar arbei
tend in Frankreich zu verbringen. Ich liebte dieses schöne geistige Land als eine zweite Heimat und fühlte mich dort nicht als Ausländer. Valéry, Romain Rolland, Jules Romains, André Gide, Roger Martin du Gard, Duhamel, Vildrac, Jean Richard Bloch, die Führer der Literatur, waren alte Freunde. Meine Bücher hatten beinahe so viele Leser wie in Deutschland, niemand nahm mich als ausländischen Schriftsteller, als Fremden. Ich liebte das Volk, ich liebte das Land, ich liebte die Stadt Paris und fühlte mich dort dermaßen zu Hause, daß jedesmal, wenn der Zug in die Gare du Nord einrollte, ich das Gefühl hatte, ich käme ›zurück‹. Aber diesmal war ich durch die besonderen Umstände früher abgereist als sonst und wollte erst nach Weihnachten in Paris sein. Wohin inzwischen? Da erinnerte ich mich, daß ich eigentlich seit mehr als einem Vierteljahrhundert, seit meiner Studentenzeit, nicht wieder in England gewesen war. Warum nur immer Paris, sagte ich mir. Warum nicht auch einmal zehn oder vierzehn Tage in London, nach Jahren und Jahren wieder die Museen sehen mit anderem Blick, wieder das Land und die Stadt? So nahm ich statt des Expreßzugs nach Paris jenen nach Calais und stieg im vorschriftsmäßigen Nebel eines Novembertags nach dreißig Jahren wieder an der Victoria Station aus und wunderte mich bei der Ankunft nur, daß ich nicht wie damals im Cab zu meinem Hotel fuhr, sondern in einem Auto, Der Nebel, das kühle, weiche Grau, war wie damals. Noch hatte ich keinen Blick auf die Stadt getan, aber mein Geruchssinn hatte, über drei Jahrzehnte hinweg, diese sonderbar herbe, dichte, feuchte, einen von nah umhüllende Luft wiedererkannt.
Das Gepäck, das ich mitbrachte, war gering, und ebenso meine Erwartungen. Freundschaftliche Bindungen besaß ich in London so gut wie keine; auch literarisch bestand zwischen uns kontinentalen und den englischen Schriftstellern wenig
Kontakt. Sie hatten eine Art eigenen, abgegrenzten Lebens mit eigenem Wirkungskreis innerhalb ihrer uns nicht ganz zugänglichen Tradition: ich kann mich nicht erinnern, unter den vielen Büchern, die aus aller Welt in mein Haus auf meinen Tisch kamen, je das eines englischen Autors als kollegiale Gabe gefunden zu haben. Shaw war ich einmal in Hellerau begegnet, Wells war einmal zu Besuch nach Salzburg in mein Haus gekommen, meine eigenen Bücher wiederum waren zwar alle übersetzt, aber wenig bekannt; immer war England das Land gewesen, wo sie die geringste Wirkung geübt. Auch hatte ich, während ich mit meinem amerikanischen, meinem französischen, meinem italienischen, meinem russischen Verleger persönlich befreundet war, nie einen Herrn der Firma gesehen, die meine Bücher in England veröffentlichte. Ich war also darauf vorbereitet, mich dort ebenso fremd zu fühlen wie vor dreißig Jahren.
Aber es kam anders. Nach einigen Tagen fühlte ich mich in London unbeschreiblich wohl. Nicht daß sich London wesentlich geändert hätte. Aber ich selbst hatte mich verändert. Ich war dreißig Jahre älter geworden und nach den Kriegs- und Nachkriegsjahren der Spannung und Überspannung voll Sehnsucht, einmal wieder ganz still zu leben und nichts Politisches zu hören. Selbstverständlich gab es auch in England Parteien, Whigs und Torys, eine konservative und liberale und Labour Partei, aber deren Diskussionen gingen mich nichts an. Es gab zweifellos auch in der Literatur Parteiungen und Strömungen, Streit und verborgene Rivalitäten, aber ich stand hier völlig außerhalb. Jedoch die eigentliche Wohltat war, daß ich endlich wieder eine zivile, höfliche, unerregte, haßlose Atmosphäre um mich fühlte. Nichts hatte mir das Leben in den letzten Jahren dermaßen vergiftet, als immer Haß und Spannung im Lande, in der Stadt um mich zu fühlen, immer mich wehren
zu müssen, in diese Diskussionen hineingezerrt zu werden. Hier war die Bevölkerung nicht in gleicher Weise verstört, ein höheres Maß von Rechtlichkeit und Anständigkeit herrschte hier im öffentlichen Leben als in
Weitere Kostenlose Bücher