Die Welt von Gestern
war die Faust Mussolinis, der sie vorwärtsstieß. Daß diese angeblich patriotischen Österreicher mit ihren von Italien gelieferten Bajonetten den Ast absägten, auf dem sie saßen, merkten sie nicht.
Die sozialdemokratische Partei begriff besser, wo die eigentliche Gefahr lag. An sich brauchte sie den offenen Kampf nicht zu scheuen. Sie hatte ihre Waffen und konnte durch einen Generalstreik alle Bahnen, alle Wasserwerke, alle Elektrizitätswerke lahmlegen. Aber sie wußte auch, daß Hitler nur auf eine solche sogenannte ›rote Revolution‹ wartete, um einen Vorwand zu haben, als ›Retter‹ in Österreich einzurücken. So schien es ihr besser, ein Großteil ihrer Rechte und sogar das Parlament zu opfern, um zu einem erträglichen Kompromiß zu gelangen. Alle Vernünftigen befürworteten einen solchen Ausgleich angesichts der Zwangslage, in der sich Österreich im drohenden Schatten des Hitlerismus befand. Sogar Dollfuß selbst, ein geschmeidiger, ehrgeiziger, aber durchaus realistischer Mann, schien zu einer Einigung geneigt. Aber der junge Starhemberg
und sein Kumpan, Major Fey, der dann bei der Ermordung von Dollfuß eine merkwürdige Rolle spielte, verlangten, daß der Schutzbund seine Waffen ausliefere und daß jede Spur demokratischer und bürgerlicher Freiheit vernichtet werde. Gegen diese Forderung wehrten sich die Sozialdemokraten, Drohungen wechselten herüber und hinüber in den Lagern. Eine Entscheidung, das spürte man, lag jetzt in der Luft, und ich mußte im Gefühl der allgemeinen Spannung ahnungsvoll an Shakespeares Worte denken: »So foul a sky clears not without a storm.«
Ich war nur einige Tage in Salzburg gewesen und bald nach Wien weitergefahren. Und gerade in diesen ersten Februartagen brach das Gewitter los. Die Heimwehr hatte in Linz das Haus der Arbeiterschaft überfallen, um die Waffendepots, die sie dort vermutete, wegzunehmen. Die Arbeiter hatten mit dem Generalstreik geantwortet, Dollfuß wiederum mit dem Befehl, mit Waffen diese künstlich erzwungene ›Revolution‹ niederzuschlagen. So rückte die reguläre Wehrmacht mit Maschinengewehren und Kanonen gegen die Wiener Arbeiterhäuser an. Drei Tage wurde erbittert gekämpft von Haus zu Haus; es war das letztemal in Spanien, daß sich in Europa die Demokratie gegen den Faschismus wehrte. Drei Tage hielten die Arbeiter stand, ehe sie der technischen Übermacht erlagen.
Ich war in diesen drei Tagen in Wien und somit Zeuge dieses Entscheidungskampfes und damit des Selbstmords der österreichischen Unabhängigkeit. Aber da ich ehrlicher Zeuge sein will, muß ich das zunächst paradox scheinende Faktum bekennen, daß ich von dieser Revolution selbst nicht das mindeste gesehen habe. Wer sich vorgesetzt hat, ein möglichst ehrliches und anschauliches Bild seiner Zeit zu geben, muß auch den Mut haben, romantische Vorstellungen zu enttäuschen. Und
nichts scheint mir charakteristischer für die Technik und Eigenart moderner Revolutionen, als daß sie sich im Riesenraum einer modernen Großstadt eigentlich nur an ganz wenigen Stellen abspielen und darum für die meisten Einwohner völlig unsichtbar bleiben. So sonderbar es scheinen mag: ich war an diesen historischen Februartagen 1934 in Wien und habe nichts gesehen von diesen entscheidenden Ereignissen, die sich in Wien abspielten, und nichts, auch nicht das mindeste davon gewußt, während sie geschahen. Es wurde mit Kanonen geschossen, es wurden Häuser besetzt, es wurden Hunderte von Leichen weggetragen – ich habe nicht eine einzige gesehen. Jeder Leser der Zeitung in New York, in London, in Paris hatte bessere Kenntnis von dem, was wirklich vor sich ging, als wir, die wir doch scheinbar Zeugen waren. Und dieses erstaunliche Phänomen, daß man in unserer Zeit zehn Straßen weit von Entscheidungen weniger weiß als die Menschen in einer Entfernung von Tausenden Kilometern, habe ich dann später immer und immer wieder bestätigt gefunden. Als Dollfuß einige Monate später mittags in Wien ermordet wurde, sah ich um halb sechs Uhr nachmittags in London die Plakate auf den Straßen. Ich versuchte sofort, nach Wien zu telephonieren; zu meinem Erstaunen erhielt ich sofort Verbindung und erfuhr zu meinem noch größeren Erstaunen, daß man in Wien, fünf Straßen vom Auswärtigen Amt, viel weniger wußte als in London an jeder Straßenecke. Ich kann also an meinem Wiener Revolutionserlebnis beispielhaft nur das Negative darstellen: wie wenig heutzutage ein Zeitgenosse, wenn er nicht
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