Die Welt von Gestern
österreichischen Schulen gegangen. Ich persönlich danke diesem Druck eine schon früh manifestierte Leidenschaft, frei zu sein, wie sie in gleich vehementem Ausmaß die heutige Jugend kaum mehr kennt, und dazu einen Haß gegen alles Autoritäre, gegen alles ›von oben herab‹ Sprechen, der mich mein ganzes Leben lang begleitet hat. Jahre und Jahre ist diese Abneigung gegen alles Apodiktische und Dogmatische bei mir bloß instinktiv gewesen, und ich hatte schon vergessen, woher sie
stammte. Aber als einmal auf einer Vortragsreise man den großen Hörsaal der Universität für mich gewählt hatte und ich plötzlich entdeckte, daß ich von einem Katheder herab sprechen sollte, während die Hörer unten auf den Bänken genau wie wir als Schüler, brav und ohne Rede und Gegenrede saßen, überkam mich plötzlich ein Unbehagen. Ich erinnerte mich, wie ich an diesem unkameradschaftlichen, autoritären, doktrinären Sprechen von oben herab in all meinen Schuljahren gelitten hatte, und eine Angst überkam mich, ich könnte durch dieses Sprechen von einem Katheder herab ebenso unpersönlich wirken wie damals unsere Lehrer auf uns; dank dieser Hemmung wurde diese Vorlesung auch die schlechteste meines Lebens.
Bis zum vierzehnten oder fünfzehnten Jahre fanden wir uns mit der Schule noch redlich zurecht. Wir spaßten über die Lehrer, wir lernten mit kalter Neugier die Lektionen. Dann aber kam die Stunde, wo die Schule uns nur mehr langweilte und störte. Ein merkwürdiges Phänomen hatte sich in aller Stille ereignet: wir, die wir als zehnjährige Buben ins Gymnasium eingetreten waren, hatten bereits in den ersten vier von unseren acht Jahren geistig die Schule überholt. Wir fühlten instinktiv, daß wir nichts Wesentliches mehr von ihr zu lernen hatten und in manchem der Gegenstände, die uns interessierten, sogar mehr wußten als unsere armen Lehrer, die seit ihrer Studienzeit aus eigenem Interesse nie mehr ein Buch aufgeschlagen. Auch machte sich ein anderer Gegensatz von Tag zu Tag mehr fühlbar: auf den Bänken, wo wir eigentlich nur mehr mit unseren Hosen saßen, hörten wir nichts Neues oder nichts, das uns wissenswert schien, und außen war eine Stadt voll tausendfältiger Anregungen, eine Stadt mit Theatern, Museen, Buchhandlungen, Universität, Musik, wo jeder Tag andere Über
raschungen brachte. So warf sich unser zurückgestauter Wissensdurst, die geistige, die künstlerische, die genießerische Neugierde, die in der Schule keinerlei Nahrung fand, leidenschaftlich all dem entgegen, was außerhalb der Schule geschah. Erst waren es nur zwei oder drei unter uns, die solche künstlerischen, literarischen, musikalischen Interessen in sich entdeckten, dann ein Dutzend und schließlich beinahe alle.
Denn Begeisterung ist bei jungen Menschen eine Art Infektionsphänomen. Sie überträgt sich innerhalb einer Schulklasse von einem auf den andern wie Masern oder Scharlach, und indem die Neophyten mit kindlichem, eitlem Ehrgeiz sich möglichst rasch in ihrem Wissen zu überbieten suchen, treiben sie einander weiter. Mehr oder minder ist es darum eigentlich nur Zufall, welche Richtung diese Leidenschaft nimmt; findet sich in einer Klasse ein Briefmarkensammler, so wird er bald ein Dutzend zu gleichen Narren machen, wenn drei für Tänzerinnen schwärmen, werden auch die andern täglich vor der Bühnentür der Oper stehen. Nach der unseren kam drei Jahre später eine Schulklasse, die ganz vom Fußball besessen war, und vor uns war eine, die für Sozialismus oder Tolstoi sich begeisterte. Daß ich zufällig in einen Jahrgang für die Kunst fanatisierter Kameraden geriet, ist vielleicht für meinen ganzen Lebensgang entscheidend gewesen.
An und für sich war diese Begeisterung für Theater, Literatur und Kunst eine ganz natürliche in Wien; die Zeitung gab in Wien allen kulturellen Geschehnissen besonderen Raum, rechts und links hörte man, wo immer man ging, bei den Erwachsenen Diskussionen über die Oper oder das Burgtheater, in allen Papiergeschäften standen in den Auslagen die Bilder der großen Schauspieler; noch galt Sport als eine brutale Angelegenheit, deren ein Gymnasiast sich eher zu schämen hatte, und der Kinematograph mit seinen Massenidealen war noch
nicht erfunden. Auch zu Hause hatte man keinen Widerstand zu befürchten; Theater und Literatur zählten unter die ›unschuldigen‹ Passionen im Gegensatz zu Kartenspiel oder Mädchenfreundschaften. Schließlich hatte mein Vater, wie alle Wiener Väter, in
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