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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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beschwingte Glücksmoment, den ich der Schule zu danken habe, wurde der Tag, da ich ihre Tür für immer hinter mir zuschlug.
    Nicht daß unsere österreichischen Schulen an sich schlecht gewesen wären. Im Gegenteil, der sogenannte ›Lehrplan‹ war nach hundertjähriger Erfahrung sorgsam ausgearbeitet und hät
te, wenn anregend übermittelt, eine fruchtbare und ziemlich universale Bildung fundieren können. Aber eben durch die akkurate Planhaftigkeit und ihre trockene Schematisierung wurden unsere Schulstunden grauenhaft dürr und unlebendig, ein kalter Lernapparat, der sich nie an dem Individuum regulierte und nur wie ein Automat mit Ziffern ›gut, genügend, ungenügend‹ aufzeigte, wie weit man den ›Anforderungen‹ des Lehrplans entsprochen hatte. Gerade aber diese menschliche Lieblosigkeit, diese nüchterne Unpersönlichkeit und das Kasernenhafte des Umgangs war es, was uns unbewußt erbitterte. Wir hatten unser Pensum zu lernen und wurden geprüft, was wir gelernt hatten; kein Lehrer fragte ein einziges Mal in acht Jahren, was wir persönlich zu lernen begehrten, und just jener fördernde Aufschwung, nach dem jeder junge Mensch sich doch heimlich sehnt, blieb vollkommen aus.
    Diese Nüchternheit sprach sich schon äußerlich in unserem Schulgebäude aus, einem typischen Zweckbau, vor fünfzig Jahren eilig, billig und gedankenlos hingepflastert. Mit ihren kalten, schlecht gekalkten Wänden, niederen Klassenräumen ohne Bild oder sonst augenerfreuenden Schmuck, ihren das ganze Haus durchduftenden Anstandsorten, hatte diese Lernkaserne etwas von einem alten Hotelmöbel, das schon Unzählige vor einem benutzt hatten und Unzählige ebenso gleichgültig oder widerwillig benutzen würden; noch heute kann ich jenen muffigen, modrigen Geruch nicht vergessen, der diesem Haus wie allen österreichischen Amtsbüros anhaftete, und den man bei uns den ›ärarischen‹ Geruch nannte, diesen Geruch von überheizten, überfüllten, nie recht gelüfteten Zimmern, der sich einem zuerst an die Kleider und dann an die Seele hängte. Man saß paarweise wie die Sträflinge in ihrer Galeere auf niederen Holzbänken, die einem das Rückgrat krümmten, und saß, bis einem die Knochen schmerzten; im Winter flackerte das bläu
liche Licht offener Gasflammen über unseren Büchern, im Sommer dagegen wurden sorglich die Fenster verhängt, damit sich der Blick nicht etwa träumerisch an dem kleinen Quadrat blauen Himmels erfreuen könnte. Noch hatte jenes Jahrhundert nicht entdeckt, daß unausgeformte junge Körper Luft und Bewegung brauchen. Zehn Minuten Pause auf dem kalten, engen Gang galten für ausreichend innerhalb von vier oder fünf Stunden reglosen Hockens; zweimal in der Woche wurden wir in den Turnsaal geführt, um dort bei sorglich geschlossenen Fenstern auf dem Bretterboden, der bei jedem Schritt Staub meterhoch aufwölkte, sinnlos herumzutappen; damit war der Hygiene Genüge geleistet, der Staat hatte an uns seine ›Pflicht‹ erfüllt für die ›mens sana in corpore sano‹. Noch nach Jahren, wenn ich an diesem trüben, trostlosen Hause vorüberging, spürte ich ein Gefühl der Entlastung, daß ich diesen Kerker unserer Jugend nicht mehr betreten mußte, und als anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens dieser erlauchten Anstalt eine Feier veranstaltet und ich als ehemaliger Glanzschüler aufgefordert wurde, die Festrede vor Minister und Bürgermeister zu halten, lehnte ich höflich ab. Ich hatte dieser Schule nicht dankbar zu sein, und jedes Wort dieser Art wäre zur Lüge geworden.
    Auch unsere Lehrer hatten an der Trostlosigkeit jenes Betriebes keine Schuld. Sie waren weder gut noch böse, keine Tyrannen und andererseits keine hilfreichen Kameraden, sondern arme Teufel, die sklavisch an das Schema, an den behördlich vorgeschriebenen Lehrplan gebunden, ihr ›Pensum‹ zu erledigen hatten wie wir das unsere und – das fühlten wir deutlich – ebenso glücklich waren wie wir selbst, wenn mittags die Schulglocke scholl, die ihnen und uns die Freiheit gab. Sie liebten uns nicht, sie haßten uns nicht, und warum auch, denn sie wußten von uns nichts; noch nach ein paar Jahren kannten sie die wenigsten von uns mit Namen, nichts anderes hatte
im Sinn der damaligen Lehrmethode sie zu bekümmern als festzustellen, wie viele Fehler ›der Schüler‹ in der letzten Aufgabe gemacht hatte. Sie saßen oben auf dem Katheder und wir unten, sie fragten, und wir mußten antworten, sonst gab es zwischen uns keinen

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