Die Welt von Gestern
Zusammenhang. Denn zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Katheder und Schulbank, dem sichtbaren Oben und sichtbaren Unten stand die unsichtbare Barriere der ›Autorität‹, die jeden Kontakt verhinderte. Daß ein Lehrer den Schüler als ein Individuum zu betrachten hatte, das besonderes Eingehen auf seine besonderen Eigenschaften forderte, oder daß gar, wie es heute selbstverständlich ist, er ›reports‹, also beobachtende Beschreibungen über ihn zu verfassen hatte, würde damals seine Befugnisse wie seine Befähigung weit überschritten, anderseits ein privates Gespräch wieder seine Autorität gemindert haben, weil dies uns als ›Schüler‹ zu sehr auf eine Ebene mit ihm, dem ›Vorgesetzten‹ gestellt hätte. Nichts ist mir charakteristischer für die totale Zusammenhanglosigkeit, die geistig und seelisch zwischen uns und unseren Lehrern bestand, als daß ich alle ihre Namen und Gesichter vergessen habe. Mit photographischer Schärfe bewahrt mein Gedächtnis noch das Bild des Katheders und des Klassenbuchs, in das wir immer zu schielen suchten, weil es unsere Noten enthielt; ich sehe das kleine rote Notizbuch, in dem sie die Klassifizierungen zunächst vermerkten, und den kurzen schwarzen Bleistift, der die Ziffern eintrug, ich sehe meine eigenen Hefte, übersät mit den Korrekturen des Lehrers in roter Tinte, aber ich sehe kein einziges Gesicht von all ihnen mehr vor mir – vielleicht weil wir immer mit geduckten oder gleichgültigen Augen vor ihnen gestanden.
Dieses Mißvergnügen an der Schule war nicht etwa eine persönliche Einstellung; ich kann mich an keinen meiner Kameraden erinnern, der nicht mit Widerwillen gespürt hätte, daß un
sere besten Interessen und Absichten in dieser Tretmühle gehemmt, gelangweilt und unterdrückt wurden. Aber viel später erst wurde mir bewußt, daß diese lieblose und seelenlose Methode unserer Jugenderziehung nicht etwa der Nachlässigkeit der staatlichen Instanzen zur Last fiel, sondern daß sich darin eine bestimmte, allerdings sorgfältig geheimgehaltene Absicht aussprach. Die Welt vor uns oder über uns, die alle ihre Gedanken einzig auf den Fetisch der Sicherheit einstellte, liebte die Jugend nicht oder vielmehr: sie hatte ein ständiges Mißtrauen gegen sie. Eitel auf ihren systematischen ›Fortschritt‹, auf ihre Ordnung, proklamierte die bürgerliche Gesellschaft Mäßigkeit und Gemächlichkeit in allen Lebensformen als die einzig wirksame Tugend des Menschen; jede Eile, uns vorwärts zu führen, sollte vermieden werden. Österreich war ein alter Staat, von einem greisen Kaiser beherrscht, von alten Ministern regiert, ein Staat, der ohne Ambition einzig hoffte, sich durch Abwehr aller radikalen Veränderungen im europäischen Raume unversehrt zu erhalten; junge Menschen, die ja aus Instinkt immer schnelle und radikale Veränderungen wollen, galten deshalb als ein bedenkliches Element, das möglichst lange ausgeschaltet oder niedergehalten werden mußte. So hatte man keinen Anlaß, uns die Schuljahre angenehm zu machen; wir sollten jede Form des Aufstiegs erst durch geduldiges Warten uns verdienen. Durch dieses ständige Zurückschieben bekamen die Altersstufen einen ganz anderen Wert wie heute. Ein achtzehnjähriger Gymnasiast wurde wie ein Kind behandelt, wurde bestraft, wenn er einmal mit einer Zigarette ertappt wurde, hatte gehorsam die Hand zu erheben, wenn er die Schulbank wegen eines natürlichen Bedürfnisses verlassen wollte; aber auch ein Mann von dreißig Jahren wurde noch als unflügges Wesen betrachtet, und selbst der Vierzigjährige noch nicht für eine verantwortliche Stellung als reif erachtet. Als ein
mal ein erstaunlicher Ausnahmefall sich ereignete und Gustav Mahler mit achtunddreißig Jahren zum Direktor der Hofoper ernannt wurde, ging ein erschrecktes Raunen und Staunen durch ganz Wien, daß man einem ›so jungen Menschen‹ das erste Kunstinstitut anvertraut hatte (man vergaß vollkommen, daß Mozart mit sechsunddreißig, Schubert mit einunddreißig Jahren schon ihre Lebenswerke vollendet hatten). Dieses Mißtrauen, daß jeder junge Mensch ›nicht ganz verläßlich‹ sei, ging damals durch alle Kreise. Mein Vater hätte nie einen jungen Menschen in seinem Geschäft empfangen, und wer das Unglück hatte, besonders jung auszusehen, hatte überall Mißtrauen zu überwinden. So geschah das heute fast Unbegreifliche, daß Jugend zur Hemmung in jeder Karriere wurde und nur Alter zum Vorzug. Während heute in unserer vollkommen
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