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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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veränderten Zeit Vierzigjährige alles tun, um wie Dreißigjährige auszusehen und Sechzigjährige wie Vierzigjährige, während heute Jugendlichkeit, Energie, Tatkraft und Selbstvertrauen fördert und empfiehlt, mußte in jenem Zeitalter der Sicherheit jeder, der vorwärts wollte, alle denkbare Maskierung versuchen, um älter zu erscheinen. Die Zeitungen empfahlen Mittel, um den Bartwuchs zu beschleunigen, vierundzwanzig- oder fünfundzwanzigjährige junge Ärzte, die eben das medizinische Examen absolviert hatten, trugen mächtige Bärte und setzten sich, auch wenn es ihre Augen gar nicht nötig hatten, goldene Brillen auf, nur damit sie bei ihren ersten Patienten den Eindruck der ›Erfahrenheit‹ erwecken könnten. Man legte sich lange schwarze Gehröcke zu und einen gemächlichen Gang und wenn möglich ein leichtes Embonpoint, um diese erstrebenswerte Gesetztheit zu verkörpern, und wer ehrgeizig war, mühte sich, dem der Unsolidität verdächtigen Zeitalter der Jugend wenigstens äußerlich Absage zu leisten; schon in der sechsten und siebten Schulklasse weigerten wir uns, Schultaschen zu
tragen, um nicht mehr als Gymnasiasten erkenntlich zu sein, und benützten statt dessen Aktenmappen. Alles, was uns heute als beneidenswerter Besitz erscheint, die Frische, das Selbstbewußtsein, die Verwegenheit, die Neugier, die Lebenslust der Jugend, galt jener Zeit, die nur Sinn für das ›Solide‹ hatte, als verdächtig.
    Einzig aus dieser sonderbaren Einstellung ist es zu verstehen, daß der Staat die Schule als Instrument zur Aufrechterhaltung seiner Autorität ausbeutete. Wir sollten vor allem erzogen werden, überall das Bestehende als das Vollkommene zu respektieren, die Meinung des Lehrers als unfehlbar, das Wort des Vaters als unwidersprechlich, die Einrichtungen des Staates als die absolut und in alle Ewigkeit gültigen. Ein zweiter kardinaler Grundsatz jener Pädagogik, den man auch innerhalb der Familie handhabte, ging dahin, daß junge Leute es nicht zu bequem haben sollten. Ehe man ihnen irgendwelche Rechte zubilligte, sollten sie lernen, daß sie Pflichten hatten und vor allem die Pflicht vollkommener Fügsamkeit. Von Anfang an sollte uns eingeprägt werden, daß wir, die wir im Leben noch nichts geleistet hatten und keinerlei Erfahrung besaßen, einzig dankbar zu sein hatten für alles, was man uns gewährte, und keinen Anspruch, etwas zu fragen oder zu fordern. Von frühester Kindheit an wurde in meiner Zeit diese stupide Methode der Einschüchterung geübt. Dienstmädchen und dumme Mütter erschreckten schon dreijährige und vierjährige Kinder, sie würden den ›Polizeimann‹ holen, wenn sie nicht sofort aufhörten, schlimm zu sein. Noch als Gymnasiast wurde uns, wenn wir eine schlechte Note in irgendeinem nebensächlichen Gegenstand nach Hause brachten, gedroht, man werde uns aus der Schule nehmen und ein Handwerk lernen lassen – die schlimmste Drohung, die es in der bürgerlichen Welt gab: der Rückfall ins Proletariat –, und wenn junge Menschen im ehrlichsten Bil
dungsverlangen bei Erwachsenen Aufklärung über ernste zeitliche Probleme suchten, wurden sie abgekanzelt mit dem hochmütigen »Das verstehst du noch nicht«. An allen Stellen übte man diese Technik, im Hause, in der Schule und im Staate. Man wurde nicht müde, dem jungen Menschen einzuschärfen, daß er noch nicht ›reif‹ sei, daß er nichts verstünde, daß er einzig gläubig zuzuhören habe, nie aber selbst mitsprechen oder gar widersprechen dürfe. Aus diesem Grunde sollte auch in der Schule der arme Teufel von Lehrer, der oben am Katheder saß, ein unnahbarer Ölgötze bleiben und unser ganzes Fühlen und Trachten auf den ›Lehrplan‹ beschränken. Ob wir uns in der Schule wohl fühlten oder nicht, war ohne Belang. Ihre wahre Mission im Sinne der Zeit war nicht so sehr, uns vorwärtszubringen als uns zurückzuhalten, nicht uns innerlich auszuformen, sondern dem geordneten Gefüge möglichst widerstandslos einzupassen, nicht unsere Energie zu steigern, sondern sie zu disziplinieren und zu nivellieren.
    Ein solcher psychologischer oder vielmehr unpsychologischer Druck auf eine Jugend kann nur zweierlei Wirkung haben: er kann lähmend wirken oder stimulierend. Wie viele ›Minderwertigkeitskomplexe‹ diese absurde Erziehungsmethode gezeitigt hat, mag man in den Akten der Psychoanalytiker nachlesen; es ist vielleicht kein Zufall, daß dieser Komplex gerade von Männern aufgedeckt wurde, die selbst durch unsere alten

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