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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Freiheitsbeschränkung drohte. Aber etwas Unerklärbares widersetzte sich in mir, mich wegzuretten. Halb war es Trotz, nicht nochmals und nochmals flie
hen zu wollen, da das Schicksal mir doch überallhin nachsetzte, halb auch schon Müdigkeit. »Begegnen wir der Zeit, wie sie uns sucht«, sagte ich mir mit Shakespeare. Will sie dich, so wehre dich, nahe dem sechzigsten Jahre, nicht länger gegen sie! Dein Bestes, dein gelebtes Leben, erfaßt sie doch nicht mehr. So blieb ich. Immerhin wollte ich meine äußere bürgerliche Existenz zuvor noch möglichst in Ordnung bringen, und da ich die Absicht hatte, eine zweite Ehe zu schließen, keinen Augenblick verlieren, um von meiner zukünftigen Lebensgefährtin nicht durch Internierung oder andere unberechenbare Maßnahmen für lange getrennt zu werden. So ging ich jenes Morgens – es war der 1. September, ein Feiertag – zum Standesamt in Bath, um meine Heirat anzumelden. Der Beamte nahm unsere Papiere, zeigte sich ungemein freundlich und eifrig. Er verstand wie jeder in dieser Zeit unseren Wunsch nach äußerster Beschleunigung. Für den nächsten Tag sollte die Trauung angesetzt werden; er nahm seine Feder und begann mit schönen runden Lettern unsere Namen in sein Buch zu schreiben.
    In diesem Augenblick – es muß etwa elf Uhr gewesen sein – wurde die Tür des Nebenzimmers aufgerissen. Ein junger Beamter stürmte herein und zog sich im Gehen den Rock an. »Die Deutschen sind in Polen eingefallen. Das ist der Krieg!« rief er laut in den stillen Raum. Das Wort fiel mir wie ein Hammerschlag auf das Herz. Aber das Herz unserer Generation ist an allerhand harte Schläge schon gewöhnt. »Das muß noch nicht der Krieg sein«, sagte ich in ehrlicher Überzeugung. Aber der Beamte war beinahe erbittert. »Nein«, schrie er heftig, »wir haben genug! Man kann das nicht alle sechs Monate neu beginnen lassen! Jetzt muß ein Ende gemacht werden!«
    Unterdessen hatte der andere Beamte, der unseren Heiratsschein bereits auszuschreiben begonnen hatte, nachdenklich
die Feder hingelegt. Wir seien doch schließlich Ausländer, überlegte er, und würden im Falle eines Krieges automatisch zu feindlichen Ausländern. Er wisse nicht, ob eine Eheschließung in diesem Falle noch zulässig sei. Es tue ihm leid, aber er wolle sich jedenfalls nach London um Instruktionen wenden. – Dann kamen noch zwei Tage Warten, Hoffen, Fürchten, zwei Tage der grauenhaftesten Spannung. Am Sonntagmorgen verkündete das Radio die Nachricht, England habe Deutschland den Krieg erklärt.
    Es war ein sonderbarer Morgen. Man trat stumm vom Radio zurück, das eine Botschaft in den Raum geworfen, die Jahrhunderte überdauern sollte, eine Botschaft, die bestimmt war, unsere Welt total zu verändern und das Leben jedes einzelnen von uns. Eine Botschaft, in der Tod für Tausende unter jenen war, die ihr schweigend gelauscht, Trauer und Unglück, Verzweiflung und Drohung für uns alle und vielleicht nach Jahren und Jahren erst ein schöpferischer Sinn. Es war wieder Krieg, ein Krieg, furchtbarer und weitausgreifender als je zuvor ein Krieg auf Erden gewesen. Abermals war eine Zeit zu Ende, abermals begann eine neue Zeit. Wir standen schweigend in dem plötzlich atemstill gewordenen Zimmer und vermieden uns anzublicken. Von draußen kam das unbekümmerte Zwitschern der Vögel, die in leichtfertigem Liebesspiel sich tragen ließen vom lauen Wind, und im goldenen Lichtglanz wiegten sich die Bäume, als wollten ihre Blätter wie Lippen einander zärtlich berühren. Sie wußte abermals nichts, die uralte Mutter Natur, von den Sorgen ihrer Geschöpfe.
    Ich ging hinüber in mein Zimmer und richtete in einem kleinen Koffer meine Sachen zusammen. Wenn sich bewahrheitete, was ein Freund in hoher Stellung mir vorausgesagt, so sollten wir Österreicher in England den Deutschen zugezählt werden und hatten die gleichen Einschränkungen zu erwarten;
vielleicht durfte ich abends nicht mehr schlafen im eigenen Bett. Wieder war ich eine Stufe herabgefallen, seit einer Stunde nicht bloß der Fremde mehr in diesem Land, sondern ein ›enemy alien‹, ein feindlicher Ausländer; gewaltsam verbannt an eine Stelle, an der mein pochendes Herz nicht stand. Denn war eine absurdere Situation einem Menschen zu erdenken, der längst ausgestoßen war aus einem Deutschland, das ihn um seiner Rasse und Denkart willen als widerdeutsch gebrandmarkt, als nun in einem anderen Land auf Grund eines bürokratischen Dekrets einer Gemeinschaft

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