Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Ein Europäer aus Vernunft Vorwort von Matthias Naß
D as Thema Europa hat Helmut Schmidt sein ganzes politisches Leben lang begleitet. Er selbst erinnert sich sehr genau daran, dass er sich schon 1948 im Parteiblatt der Hamburger SPD mit der europäischen Integration befasste. Seine beherzte Unterstützung des Schuman-Plans für eine gemeinsame Kohle- und Stahlproduktion löste bei der SPD -Führung Verärgerung aus. Fritz Heine, Vorstandsmitglied und enger Vertrauter des damaligen Parteivorsitzenden Kurt Schumacher, rüffelte die Hamburger Genossen: Ihr müsst den jungen Mann an die Zügel nehmen, der darf so etwas nicht schreiben! Die erwiderten hanseatisch stolz, bei ihnen herrsche Meinungsfreiheit! Helmut Schmidt legt Wert darauf, dass es nicht visionärer Idealismus gewesen sei, der ihn für Europa streiten ließ, sondern strategischer Realismus. Bei aller Leidenschaft: Er hielt sich für einen Europäer aus Vernunft. Und so sieht er sich heute noch.
Die in diesem Band versammelten Texte – Parlamentsreden, Vorträge, Zeitungsbeiträge, vor allem aus der ZEIT – zeigen aber auch einen Europapolitiker, der im Rückblick sagt: »Das Herz soll nicht heiß, es soll kühl sein. Aber das Herz muss dabei sein. Der Verstand allein reicht nicht aus, um das Volk mitzureißen.«
Helmut Schmidt hatte früh begriffen, dass Deutschland nach den Verbrechen der NS -Diktatur nur durch eine Einbindung in die europäische Gemeinschaft das Vertrauen der Nachbarn zurückgewinnen konnte. Er wusste aber auch, dass sich nur ein geeintes Europa gegenüber den Weltmächten würde behaupten können, sowohl gegenüber dem Machtanspruch der damaligen Sowjetunion als auch gegenüber der »Hegemonie« der Vereinigten Staaten. Neben der Wahrung des Friedens und dem wirtschaftlichen Wiederaufstieg aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges wurde für ihn die Selbstbehauptung Europas im weltpolitischen Konzert der Großmächte das strategische Hauptargument für die politische Integration des Kontinents.
Die Sorge um die Marginalisierung eines in sich zerstrittenen Europas treibt Schmidt bis zum heutigen Tage um. »Ich halte es für möglich, dass die europäischen Staaten zu ihren alten Machtspielen zwischen Zentrum und Peripherie zurückkehren – und zwar ohne zu bemerken, dass sie sich dadurch an den äußeren Rand der Weltpolitik und der Weltwirtschaft bewegen«, schrieb er Ende 2012 in einem Leitartikel für die ZEIT .
Im 21 . Jahrhundert geht es für ihn um nicht weniger als »die Selbstbehauptung der europäischen Zivilisation«. Schmidt schaut auf den wirtschaftlichen Aufstieg neuer Mächte wie China und Indien. Und er schaut auf die demographische Entwicklung: Die Europäer werden am Ende des Jahrhunderts nur noch ungefähr fünf Prozent der Weltbevölkerung stellen. Ohne den politischen Zusammenschluss, davon ist er überzeugt, verblassten die Staaten Europas zu »Randfiguren der Weltpolitik«.
Auf dem Spiel stünde dann auch, was für Schmidt Europas größte Errungenschaft im 20 . Jahrhundert gewesen ist, nämlich der Sozialstaat. Dieser aber lässt sich auf Dauer nur finanzieren, wenn Europa innovativ und damit wettbewerbsfähig bleibt. Schmidt bewundert die Dynamik der amerikanischen Wirtschaft, er ist tief beeindruckt vom Aufstiegswillen Chinas. Gegen diese beiden Supermächte könne sich nur ein geeintes Europa behaupten.
Umso mehr solle sich die deutsche Außenpolitik zurücknehmen. Mit Lust spottet Schmidt über unausgegorene Berliner Ambitionen. In der Weltpolitik lässt er den Franzosen gern den Vortritt. Die sitzen im UN -Sicherheitsrat, verfügen über Atomwaffen und haben bis heute einen ungebrochenen diplomatischen Geltungsanspruch. Den Deutschen aber empfiehlt Schmidt Bescheidenheit: »Unser Feld ist nicht die Weltpolitik und nicht die atomare Strategie, nicht Asien, nicht der Nahe und Mittlere Osten oder Afrika, sondern unsere europäischen Nachbarn sind unser Arbeitsfeld.«
Im Zentrum aller europäischen Politik bleibt für ihn das deutsch-französische Tandem. Und, so viel Eigenlob gestattet er sich gern, nie habe dieses Tandem besser funktioniert als in der Zeit seiner freundschaftlichen Zusammenarbeit mit Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing. »Zu Zeiten von Giscard und Schmidt hat Schmidt dem Giscard keine Vorhaltungen gemacht wegen des Zurückbleibens der französischen Wirtschaft, und er hat dem Giscard auch weder das Recht auf Mitwirkung im Sicherheitsrat bestritten noch das Recht
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