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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Ländern und gab ihnen kein Land. Man sagte: lebt nicht mit uns, aber man sagte ihnen nicht, wo sie leben sollten. Man gab ihnen Schuld und verweigerte ihnen jedes Mittel, sie zu sühnen. Und so starrten sie sich an auf der Flucht mit brennenden Augen – warum ich? Warum du? Warum ich mit dir, den ich nicht kenne, dessen Sprache ich nicht verstehe, dessen Denkweise ich nicht fasse, mit dem nichts mich verbindet? Warum wir alle? Und keiner wußte Antwort. Selbst Freud, das klarste Ingenium dieser Zeit, mit dem ich oft in jenen Tagen sprach, wußte keinen Weg, keinen Sinn in diesem Widersinn. Aber vielleicht ist es gerade des Judentums letzter Sinn, durch seine rätselhaft überdauernde Existenz Hiobs ewige Frage an Gott immer wieder zu wiederholen, damit sie nicht völlig vergessen werde auf Erden.

    Nichts Gespenstischeres, als wenn im Leben das, was man längst abgestorben und eingesargt vermeint, plötzlich in gleicher Form und Gestalt wieder an einen herantritt. Der Sommer 1939 war gekommen, München längst vorüber mit seinem kurzatmigen Wahn ›peace for our time‹; schon hatte Hitler die verstümmelte Tschechoslowakei gegen Eid und Gelöbnis überfallen und an sich gerissen, schon war Memel besetzt, Danzig mit dem polnischen Korridor von der künstlich auf Tobsucht angekurbelten deutschen Presse gefordert. Ein bitteres Erwachen aus seiner loyalen Gutgläubigkeit war über England hereingebrochen. Selbst die einfachen, unbelehrten Leute, die nur instinktiv den Krieg verabscheuten, begannen heftigen Unmut zu äußern. Jeder der sonst so zurückhaltenden
Engländer sprach einen an, der Portier, der unser weiträumiges Flat-House behütete, der Liftboy im Aufzug, das Stubenmädchen, während sie das Zimmer aufräumte. Keiner von ihnen verstand deutlich, was geschah, aber jeder erinnerte sich an das Eine, das unleugbar Offenbare, daß Chamberlain, der Premierminister Englands, dreimal nach Deutschland geflogen war, um den Frieden zu retten, und daß kein noch so herzliches Entgegenkommen Hitler genug getan. Im englischen Parlament hörte man mit einemmal harte Stimmen: ›Stop aggression!‹, überall spürte man die Vorbereitungen für (oder eigentlich gegen) den kommenden Krieg. Abermals begannen die hellen Abwehrballons – noch sahen sie unschuldig aus wie graue Spielelefanten von Kindern – über London zu schweben, abermals wurden Luftschutzunterstände aufgeworfen und die verteilten Gasmasken sorgfältig überprüft. Genauso gespannt war die Situation geworden wie vor einem Jahre und vielleicht noch gespannter, weil diesmal nicht mehr eine naive und arglose Bevölkerung, sondern eine schon entschlossene und erbitterte hinter der Regierung stand.
    Ich hatte in jenen Monaten London verlassen und mich auf das Land nach Bath zurückgezogen. Nie in meinem Leben hatte ich die Ohnmacht des Menschen gegen das Weltgeschehen grausamer empfunden. Da war man, ein wacher, denkender, abseits von allem Politischen wirkender Mensch, seiner Arbeit verschworen, und baute still und beharrlich daran, seine Jahre in Werk zu verwandeln. Und da waren irgendwo im Unsichtbaren ein Dutzend anderer Menschen, die man nicht kannte, die man nie gesehen, ein paar Leute in der Wilhelmstraße in Berlin, am Quai d'Orsay in Paris, im Palazzo Venezia in Rom und in der Downing Street in London, und diese zehn oder zwanzig Menschen, von denen die wenigsten bisher besondere Klugheit oder Geschicklichkeit bewiesen, sprachen und schrie
ben und telephonierten und paktierten über Dinge, die man nicht wußte. Sie faßten Entschlüsse, an denen man nicht teilhatte und die man im einzelnen nicht erfuhr, und bestimmten damit doch endgültig über mein eigenes Leben und das jedes anderen in Europa. In ihren Händen und nicht in meinen eigenen lag jetzt mein Geschick. Sie zerstörten oder schonten uns Machtlose, sie ließen Freiheit oder zwangen in Knechtschaft, sie bestimmten für Millionen Krieg oder Frieden. Und da saß ich wie alle die andern in meinem Zimmer, wehrlos wie eine Fliege, machtlos wie eine Schnecke, indes es auf Tod und Leben ging, um mein innerstes Ich und meine Zukunft, um die in meinem Gehirn werdenden Gedanken, die geborenen und ungeborenen Pläne, mein Wachen und meinen Schlaf, meinen Willen, meinen Besitz, mein ganzes Sein. Da saß man und harrte und starrte ins Leere wie ein Verurteilter in seiner Zelle, eingemauert, eingekettet in dieses sinnlose, kraftlose Warten und Warten, und die Mitgefangenen rechts und links fragten und

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