Die Welt von Gestern
bald jede Scheu. Unverhohlen sagte ich ihnen mein Bedauern, in Brüssel gerade den zu versäumen, um dessentwillen ich eigentlich gekommen war: Verhaeren.
Hatte ich zuviel gesagt? Hatte ich etwas Törichtes gesagt? Jedenfalls bemerkte ich, daß sowohl van der Stappen als seine Frau leise zu lächeln begonnen hatten und sich verstohlene Blicke zuwarfen. Ich fühlte ein geheimes Einverständnis zwischen ihnen durch meine Worte erregt. Ich wurde befangen und wollte Abschied nehmen, aber beide wehrten sie ab, ich müsse zu Tisch bleiben, unbedingt. Wieder ging das seltsame Lächeln von Augenstern zu Augenstern. Ich fühlte, daß, wenn es hier ein Geheimnis gebe, dies ein freundliches sei; und verzichtete gern auf meine beabsichtigte Fahrt nach Waterloo.
Es war rasch Mittag, wir saßen schon im Speisezimmer – es lag zu ebener Erde wie in allen belgischen Häusern –, und man sah von dem Gemach aus durch die farbigen Scheiben auf die Straße, als plötzlich ein Schatten scharf vor dem Fenster stehenblieb. Ein Knöchel pochte an das bunte Glas, schroff schlug zugleich die Glocke an. »Le voilà!« sagte Frau van der Stappen und stand auf, und er trat ein, schweren starken Schritts: Verhaeren. Auf den ersten Blick erkannte ich das mir von den Bildern längst vertraute Gesicht. Wie so oft war Verhaeren auch diesmal bei ihnen Hausgast, und als sie hörten, daß ich ihn in der ganzen Gegend vergeblich gesucht, hatten sich beide mit einem raschen Blick verständigt, mir nichts davon zu sagen, sondern mich mit seiner Gegenwart zu überraschen. Und nun stand er mir gegenüber, lächelnd über den gelungenen Streich, den er vernahm. Zum erstenmal fühlte ich den festen Griff seiner nervigen Hand, zum erstenmal faßte ich seinen klaren, gü
tigen Blick. Er kam – wie immer – gleichsam geladen mit Erlebnis und Enthusiasmus ins Haus. Noch während er fest zupackte beim Essen, erzählte er schon. Er war bei Freunden gewesen und in einer Galerie und flammte noch ganz von dieser Stunde. Immer kam er so heim, von überall und von allem gesteigert am zufälligen Erlebnis, und diese Begeisterung war ihm eine heilige Gewohnheit geworden; wie eine Flamme schlug sie immer und immer wieder von den Lippen, und wunderbar wußte er mit scharfen Gesten das Gesprochene nachzuzeichnen. Mit dem ersten Wort griff er in die Menschen hinein, weil er ganz aufgetan war, zugänglich jedem Neuen, nichts ablehnend, jedem einzelnen bereit. Er warf sich gewissermaßen gleich mit seinem ganzen Wesen aus sich heraus einem entgegen, und wie in dieser ersten Stunde selbst, habe ich hundert- und hundertmal diesen stürmischen überwältigenden Anprall seines Wesens an andere Menschen beglückt miterlebt. Noch wußte er nichts von mir, und schon bot er mir Vertrauen, bloß weil er hörte, daß ich seinem Werke nahe war.
Nach dem Mittagessen kam zur ersten guten Überraschung die zweite. Van der Stappen, der schon lange sich und Verhaeren einen alten Wunsch erfüllen wollte, arbeitete seit Tagen an einer Büste Verhaerens; heute sollte die letzte Sitzung sein. Meine Gegenwart sei, sagte van der Stappen, eine freundliche Gabe des Schicksals, denn er brauche gerade jemanden, der mit dem allzu Unruhigen spreche, während er ihm Modell sitze, damit sich das Gesicht im Sprechen und Hören belebe. Und so sah ich zwei Stunden lang tief in dies Gesicht hinein, dies unvergeßliche, die hohe Stirn, schon siebenfach durchpflügt von Falten böser Jahre, darüber rostfarbig der Sturz des braunen Gelocks, hart das Gefüge des Gesichts und streng umspannt von bräunlicher, windgegerbter Haut, felsig vorstoßend das Kinn und über der schmalen Lippe groß und mächtig der
hängende Vercingetorix-Schnurrbart. Die Nervosität, sie saß in den Händen, in diesen schmalen, griffigen, feinen und doch kräftigen Händen, wo die Adern stark unter der dünnen Haut pochten. Die ganze Wucht seines Willens stemmte sich vor in den breiten, bäuerischen Schultern, für die der nervige knochige Kopf fast zu klein schien; erst wenn er ausschritt, sah man seine Kraft. Wenn ich heute die Büste anblicke – nie ist van der Stappen Besseres gelungen als das Werk jener Stunde –, so weiß ich erst, wie wahr sie ist, und wie voll sie sein Wesen faßt. Sie ist Dokument einer dichterischen Größe, das Monument einer unvergänglichen Kraft.
In diesen drei Stunden lernte ich den Menschen schon so lieben, wie ich ihn dann mein ganzes Leben geliebt. In seinem Wesen war eine Sicherheit, die nicht
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