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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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zusammen! Laßt nicht immer alles uns paar alte Frauen tun, auf die niemand hört.« Ich erzählte ihr, daß ich nach Paris ginge; vielleicht könnte man wirklich eine gemeinsame Manifestation versuchen. »Warum nur vielleicht?« drängte sie. »Es steht schlimmer als je, die Maschine ist doch schon im Gang.« Ich hatte, selbst beunruhigt, Mühe, sie zu beruhigen.
    Aber gerade in Frankreich sollte ich durch eine zweite, per
sönliche Episode erinnert werden, wie prophetisch die alte Frau, die man in Wien wenig ernst nahm, die Zukunft gesehen. Es war eine ganz kleine Episode, aber für mich besonders eindrucksvoll. Ich war im Frühjahr 1914 mit einer Freundin aus Paris für einige Tage in die Touraine gefahren, um das Grab Leonardo da Vincis zu sehen. Wir waren die milden und sonnigen Ufer der Loire entlanggewandert und abends herzhaft müde. So beschlossen wir, in der etwas verschlafenen Stadt Tours, in der ich zuvor dem Geburtshaus Balzacs meine Reverenz abgestattet hatte, ins Kino zu gehen.
    Es war ein kleines Vorstadtkino, in nichts noch ähnlich den neuzeitlichen Palästen aus Chrom und blinkendem Glas. Nur ein notdürftig adaptierter Saal, gefüllt mit kleinen Leuten, Arbeitern, Soldaten, Marktfrauen, richtigem Volk, das gemütlich schwatzte und trotz des Rauchverbots blaue Wolken von Scaferlati und Caporal in die stickige Luft blies. Zuerst liefen die ›Neuigkeiten aus aller Welt‹ über die Leinwand. Ein Bootrennen in England: die Leute schwatzten und lachten. Es kam eine französische Militärparade: auch hier nahmen die Leute wenig Anteil. Dann als drittes Bild: ›Kaiser Wilhelm besucht Kaiser Franz Joseph in Wien‹. Auf einmal sah ich auf der Leinwand den wohlvertrauten Perron des häßlichen Wiener Westbahnhofs mit ein paar Polizisten, die auf den einfahrenden Zug warteten. Dann ein Signal: der alte Kaiser Franz Joseph, der die Ehrengarde entlangschritt, um seinen Gast zu empfangen. Wie der alte Kaiser auf der Leinwand erschien und, ein bißchen gebückt schon, ein bißchen wacklig die Front entlangschritt, lachten die Leute aus Tours gutmütig über den alten Herrn mit dem weißen Backenbart. Dann fuhr auf dem Bilde der Zug ein, der erste, der zweite, der dritte Waggon. Die Tür des Salonwagens öffnete sich und heraus stieg, den Schnurrbart hoch gesträubt, in österreichischer Generalsuniform, Wilhelm II .
    In diesem Augenblick, da Kaiser Wilhelm im Bilde erschien, begann ganz spontan in dem dunklen Raume ein wildes Pfeifen und Trampeln. Alles schrie und pfiff, Frauen, Männer, Kinder höhnten, als ob man sie persönlich beleidigt hätte. Die gutmütigen Leute von Tours, die doch nicht mehr wußten von Politik und Welt, als was in ihren Zeitungen stand, waren für eine Sekunde toll geworden. Ich erschrak. Ich erschrak bis tief ins Herz hinein. Denn ich spürte, wie weit die Vergiftung durch die seit Jahren und Jahren geführte Haßpropaganda fortgeschritten sein mußte, wenn sogar hier, in einer kleinen Provinzstadt, die arglosen Bürger und Soldaten bereits dermaßen gegen den Kaiser, gegen Deutschland aufgestachelt worden waren, daß selbst ein flüchtiges Bild auf der Leinwand sie schon zu einem Ausbruch verleiten konnte. Es war nur eine Sekunde, eine einzige Sekunde. Als dann wieder andere Bilder kamen, war alles vergessen. Die Leute lachten über den jetzt abrollenden komischen Film aus vollen Bäuchen und schlugen sich vor Vergnügen auf die Knie, daß es krachte. Es war nur eine Sekunde gewesen, aber doch eine, die mir zeigte, wie leicht es sein könnte, im Augenblick ernstlicher Krise die Völker hüben und drüben aufzureizen trotz allen Verständigungsversuchen, trotz unseren eigenen Bemühungen.
    Der ganze Abend war mir verdorben. Ich konnte nicht schlafen. Hätte sich das in Paris abgespielt, es hätte mich gleichfalls beunruhigt, aber nicht so erschüttert. Aber daß bis tief in die Provinz, bis tief in das gutmütige, naive Volk der Haß sich eingefressen, ließ mich schauern. In den nächsten Tagen erzählte ich die Episode den Freunden; die meisten nahmen sie nicht ernst: »Was haben wir Franzosen über die dicke Königin Victoria gespottet, und zwei Jahre später hatten wir ein Bündnis mit England. Du kennst die Franzosen nicht, bei denen geht Politik nicht tief.« Nur Rolland sah es anders. »Je naiver das Volk ist,
um so leichter, es herumzubekommen. Es steht schlecht, seit Poincaré gewählt ist. Seine Reise nach Petersburg wird keine Vergnügungsreise sein.« Wir sprachen noch

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