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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Stunden, und als einzige Entspannung erlaubte er sich die Musik; er spielte wunderbar Klavier mit einem mir unvergeßlich zarten Anschlag, die Tasten liebkosend, als wollte er ihnen die Töne nicht abzwingen, sondern nur ablocken. Kein Virtuose – und ich habe Max Reger, Busoni, Bruno Walter im engsten Kreise gehört – gab mir so sehr das Gefühl der unmittelbaren Kommunikation mit den geliebten Meistern.
    Sein Wissen war beschämend vielfältig; eigentlich nur mit dem lesenden Auge lebend, beherrschte er die Literatur, die Philosophie, die Geschichte, die Probleme aller Länder und
Zeiten. Er kannte jeden Takt in der Musik; selbst die entlegensten Werke von Galuppi, Telemann und auch von Musikern sechsten und siebenten Ranges waren ihm vertraut; dabei nahm er leidenschaftlich teil an jedem Geschehen der Gegenwart. In dieser mönchisch-schlichten Zelle spiegelte sich wie in einer Camera Obscura die Welt. Er hatte menschlich die Vertrautheit der Großen seiner Zeit genossen, war Schüler Renans gewesen, Gast im Hause Wagners, Freund von Jaurès; Tolstoi hatte an ihn jenen berühmten Brief gerichtet, der als menschliches Bekenntnis seinem literarischen Werke würdig zur Seite steht. Hier spürte ich – und das löst immer für mich ein Glücksgefühl aus – menschliche, moralische Überlegenheit, eine innere Freiheit ohne Stolz, Freiheit als Selbstverständlichkeit einer starken Seele. Auf den ersten Blick erkannte ich in ihm – und die Zeit hat mir recht gegeben – den Mann, der in entscheidender Stunde das Gewissen Europas sein würde. Wir sprachen über ›Jean Christophe‹. Rolland erklärte mir, er habe versucht, damit eine dreifache Pflicht zu erfüllen, seinen Dank an die Musik, sein Bekenntnis zur europäischen Einheit und einen Aufruf an die Völker zur Besinnung. Wir müßten jetzt jeder wirken, jeder von seiner Stelle aus, jeder von seinem Land, jeder in seiner Sprache. Es sei Zeit, wachsam zu werden und immer wachsamer. Die Kräfte, die zum Haß drängten, seien ihrer niederen Natur gemäß vehementer und aggressiver als die versöhnlichen; auch stünden hinter ihnen materielle Interessen, die an sich bedenkenloser seien als die unseren. Der Widersinn sei sichtbar am Werke und Kampf gegen ihn wichtiger sogar als unsere Kunst. Ich spürte die Trauer über die Brüchigkeit der irdischen Struktur doppelt ergreifend an einem Manne, der in seinem ganzen Werke die Unvergänglichkeit der Kunst gefeiert. »Sie kann uns trösten, uns, die Einzelnen«, antwortete er mir, »aber sie vermag nichts gegen die Wirklichkeit.«

    Das war im Jahre 1913. Es war das erste Gespräch, aus dem ich erkannte, daß es unsere Pflicht sei, nicht unvorbereitet und untätig der immerhin möglichen Tatsache eines europäischen Krieges entgegenzutreten; nichts gab im entscheidenden Augenblick dann Rolland eine solche ungeheure moralische Überlegenheit über alle andern, als daß er sich im voraus bereits die Seele schmerzhaft gefestigt hatte. Wir in unserem Kreise mochten gleichfalls einiges getan haben, ich hatte vieles übersetzt, auf die Dichter unter unseren Nachbarn hingewiesen, ich hatte Verhaeren 1912 auf einer Vortragsreise durch ganz Deutschland begleitet, die sich zu einer symbolischen deutsch-französischen Verbrüderungsmanifestation gestaltete: in Hamburg umarmten sich öffentlich Verhaeren und Dehmel, der größte französische und der große deutsche Lyriker. Ich hatte Reinhardt für Verhaerens neues Drama gewonnen, nie war unsere Zusammenarbeit hüben und drüben herzlicher, intensiver, impulsiver gewesen, und in manchen Stunden des Enthusiasmus gaben wir uns der Täuschung hin, wir hätten der Welt das Richtige, das Rettende gezeigt. Aber die Welt kümmerte sich wenig um solche literarischen Manifestationen, sie ging ihren eigenen schlimmen Weg. Irgendein elektrisches Knistern war im Gebälk von unsichtbaren Reibungen, immer wieder sprang ein Funke ab – die Affäre von Zabern, die Krisen in Albanien, ein ungeschicktes Interview –, immer nur gerade ein Funke, aber jeder hätte den gehäuften Explosionsstoff zur Entladung bringen können. Besonders wir in Österreich spürten, daß wir im Kern der Unruhezone lagen. 1910 hatte Kaiser Franz Joseph sein achtzigstes Jahr überschritten. Lange konnte es mit dem schon zum Symbol gewordenen Greise nicht mehr dauern, und ein mystisches Gefühl begann sich stimmungshaft zu verbreiten, nach dem Hingang seiner Person werde der Auflösungsprozeß der tausendjährigen

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