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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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unserer Kinder- und Hausmärchen erschienen, den wir mit einem zweiten Band gleicher Art abzurunden gedachten. Es war ein hübsches Büchlein geworden, in einer Auflage von neunhundert Stück vom Berliner Verleger Reimer gedruckt. Es würde uns wohl ein wenig Geld einbringen, sobald eine bestimmte Anzahl davon verkauft worden war, doch keiner von uns erwartete, Reichtum aus dieser Arbeit davonzutragen.
    Nichtsdestoweniger war das frisch gedruckte Märchenbuch unser ganzer Stolz, mehr noch als unsere beiden vorhergegangenen Arbeiten über altdeutschen Meistergesang und dänisches Legendengut. Wir trugen ein knappes Dutzend Exemplare in unserem Gepäck für den Fall, unterwegs damit unsere Ernsthaftigkeit unter Beweis stellen zu müssen (und um sie, so viel sei eingestanden, hin und wieder stolz zur Hand zu nehmen, über die Seiten zu streichen, am Buchbinderleim zu riechen und mit den Fingern den Schriftzug des Titelblattes nachzuzeichnen).
    Überhaupt war jene Sammlung, oder vielmehr ihr geplanter zweiter Teil, der Grund, warum Jakob mich auf der Reise begleitete. In Karlsruhe nämlich, so hatten wir von unserem Freund Brentano erfahren, war eine alte Märchenfrau zu Hause, von der wir neues Garn zu erhalten hofften – ganz ähnlich jener Frau Lenhard, der Kinderamme unseres Lehrers Savigny, deren Geistesschatz an alter Mär uns bereits beim ersten Band unversieglicher Quell gewesen war. So hatte Jakob sich schweren Herzens einige Tage von der Arbeit freistellen lassen, um mit mir ins Badische zu reisen und der alten Märchenfrau einen Besuch abzustatten.
    Doch ich greife vor, man möge mir verzeihen, und so will ich den geneigten Leser schnell zurück in den Lauf der Ereignisse ziehen. Und was für einen Lauf sie mit einem Male nahmen …
    Ich hatte gerade die Hälfte meines Eintopfs verspeist, als sich die beiden Kapuzengestalten in der Ecke des Zimmers von ihren Plätzen erhoben, an uns vorüberdrängten und zum Ausgang eilten. Sie hatten kaum die Tür geöffnet, als ein scharfer Luftzug hereinwehte. Der Wind fuhr in die Glut des Kaminfeuers, Funken stoben auf. Das Nächste, was ich wahrnahm, war, wie der Postillion schreiend von seinem Platz aufsprang und mit bloßen Händen auf einen seiner Postsäcke einschlug. Der Leinensack hatte Feuer gefangen, schon leckten die Flammen nach den Briefen im Inneren. Innerhalb weniger Atemzüge war der ganze Schankraum von dichtem grauen Qualm erfüllt. Alles stürzte hinaus ins Freie, die Holzfäller zuerst, wir selbst und der Wirt hinterher. Allein der tapfere Postkutscher blieb zurück. Wir hörten, wie er jenseits der rußigen Schwaden schimpfte und schrie und mit seinen Briefsäcken hantierte.
    Der Wirt fluchte kaum weniger lautstark und stürzte zur Brüstung seines Ziehbrunnens, der freilich zugefroren war bis auf eine winzige Öffnung, aus der er seinen nötigsten Bedarf bestritt. Zum Feuerlöschen taugte sie nicht. Stattdessen griff er nun mit ausgebreiteten Armen in den Schnee, hob einen gewaltigen Klumpen empor und verschwand damit im Inneren seiner Schenke. Wir anderen standen da, noch unsicher, ob wir es wagen sollten, ebenfalls Schnee ins düstere Gewölk zu tragen. Gerade hatten wir uns entschlossen, dem armen Mann nach besten Kräften beizustehen, als jener auch schon wieder ins Freie taumelte und verkündete, das Feuer sei gelöscht.
    Der Rauch quoll aus der Tür und den beiden Fenstern und hatte sich bald schon so weit verzogen, dass wir uns zurück ins Innere wagen konnten. Hustend schwankten wir durch den stickigen Dunst. In der Eile hatten wir unsere beiden Reisetaschen zurückgelassen und, am wichtigsten von allem, Goethes Empfehlungsschreiben. Wie groß war mein Entsetzen, als mein Blick auf den Tisch fiel!
    »Wo ist es?«, rief ich aus, stolperte auf den Tisch zu und hob in Panik die beiden Schalen auf. Der versiegelte Umschlag blieb verschwunden. Fort! In Luft aufgelöst!
    »Runtergefallen«, bemerkte Jakob, einsilbig geworden angesichts solchen Schreckens. Doch als wir unsere Blicke zum Boden wandten, mussten wir erkennen, dass der Postillion in seiner Mühe, seine Briefe zu retten, die brennenden Säcke ausgekippt hatte. Im Umkreis von fünf, sechs Schritten war der Boden knöchelhoch mit Papier bedeckt, Umschlägen und gefalteten Sendungen, manche farbig, die meisten aber ebenso weiß wie Goethes Empfehlungsbrief. Wie sollten wir das lebenswichtige Schreiben in all dieser Masse je wiederfinden? Zumal der Postillion bereits dabei war, auf allen

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