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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ungleiche Spiel fortzusetzen. Dann aber beherrschte sie sich und lenkte ein. »Sie haben Recht. Wahr ist, dass ich sah, wie der Brief zu Boden fiel. Ich bat meinen Begleiter, den treuen Kala, das Schreiben für mich aufzuheben. Sie haben vielleicht bemerkt, dass er über manch ungewöhnliche Fähigkeit verfügt. Die Kraft seines Geistes war es, die den Brief in meine Hände brachte – um ihn für Sie zu bewahren.«
    Wir hatten in der Tat gesehen, was dieser Kala vermochte, und es gab kein Argument, das dem standhalten konnte. Ohne Genaueres über seine Kräfte zu wissen, konnte Jakob ihre Worte schwerlich in Zweifel ziehen. Der Sieg des Mysteriums über die Ratio war wohlverdient.
    Mein Bruder brummte etwas und gab sich fürs Erste geschlagen. Ich wusste, dass er nur auf die Gelegenheit wartete, einen neuen Angriff zu wagen.
    Jade wandte sich nun an mich. »Es zieht Sie gen Süden, Herr – «
    »Grimm«, beeilte ich mich zu ergänzen. »Jakob und Wilhelm Grimm, meine Wenigkeit der Letztere.«
    Sie kicherte erneut. Vielleicht hatte ich zu verklausuliert gesprochen? Dabei fiel mir auf, wie perfekt ihre Handhabung des Deutschen war. Nur der singende Klang in ihrer Aussprache verriet die fremdländische Herkunft, nicht jedoch Wortwahl oder Satzbau. Ich schätzte sie auf wenige Jahre jünger, als ich selbst es war, einundzwanzig oder zweiundzwanzig, und so konnte es noch nicht lange her sein, dass sie eine gelehrige Schülerin gewesen war.
    Später erst sollte ich erfahren, worin sie besonders gelehrig war.
    »Nach Süden, ja«, beantwortete ich ihre Frage. »Unsere Kutsche hatte einen Unfall, und nach dem Unglück des Postillions steht zu befürchten, dass wir die Nacht hier im Gasthof verbringen müssen.«
    Jade sah ihren Begleiter an, als bitte sie um Erlaubnis für das, was sie nun sagte. »Kala und ich reisen nach Karlsruhe. Wenn wir Sie ein Stück des Weges mitnehmen können, so sind Sie herzlich eingeladen.«
    »Vielen Dank«, sagten Jakob und ich zugleich, und uns war klar, dass jeder einen anderen Gedanken dabei hatte. Mein Bruder wollte das Angebot zweifelsohne ausschlagen, ich aber dankte, um es anzunehmen. Nach Karlsruhe. Wir hätten es von Anfang an wissen müssen.
    Die Prinzessin öffnete die Kutsche und nahm auf einer der Bänke Platz. Aus dem Einstieg drang der würzig – exotische Duft, den wir bereits beim Betreten der Schenke bemerkt hatten; nun wussten wir, woher er rührte. Es musste sich um ein Gewürz oder einen fremdartigen Duftstoff handeln.
    Kala schwang sich mit wehendem Mantel auf den Kutschbock. Er hatte die ganze Zeit über barfuß im Schnee gestanden.
    »Steigen Sie doch ein«, bat Jade.
    Ich schenkte Jakob ein aufmunterndes Lächeln und wollte der Aufforderung folgen, er aber hielt mich am Arm zurück.
    »Weißt du noch, was geschah, als wir das letzte Mal in die Kutsche einer Fremden stiegen?«, flüsterte er unheilschwanger.
    »Aber ja doch«, entgegnete ich, und ich muss schamvoll gestehen, es war eben jener Gedanke, der mich nur noch eiliger ins Innere der Kutsche trieb.
     

2
    M ein wahrer Name ist Bharatavarsha«, erklärte Jade, während sich draußen die Nacht über die Wälder legte, »doch niemand hier würde ihn aussprechen können. Deshalb gab mein Vater mir für die Reise den Namen Jade. Beides bindet mich an die Heimat. Jade, weil sie einer unserer größten Schätze ist. Bharatavarsha aber bedeutet: das Königreich von Bharata, dem Stammvater unserer tapfersten Helden. Es ist eine große Ehre, den Namen der eigenen Heimat zu tragen.«
    Ich sah Jakobs galliger Miene an, dass er überlegte, wie es wohl wäre, »Hessen« zu heißen.
    »Ich bin im Auftrag meines Vaters unterwegs«, fuhr die Prinzessin fort. »Sie müssen wissen, er ist höchst interessiert an der Kunst des Uhrenbaus. Seine Sammlung europäischer Chronometer füllt einen ganzen Flügel des Palastes, und er wünscht nun, einige Meister dieser Kunst in sein Reich einzuladen, damit sie ihre Uhren ausschließlich zu seiner Freude herstellen.«
    »Wie interessant«, sagte ich mit jugendlicher Euphorie, wenngleich ich gestehe, sie war nicht ganz echt.
    Jakob blieb mürrisch. »Ich wusste gar nicht, dass Karlsruhe für seine Uhren bekannt ist, geschweige denn bis nach Indien.«
    »Aber ja«, widersprach die Prinzessin. »Die Kunst der Chronometrie und das ihr verwandte Handwerk wird in vielen deutschen Städten ausgeübt. Für Sie mag sie längst zur Selbstverständlichkeit geworden sein, doch für uns birgt sie

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