Die Wuensche meiner Schwestern
Kapitel 1
Beginne mit dem Kreuzanschlag
Mariah Van Ripper war im Leben stets ihrem eigenen Zeitplan gefolgt und machte auch beim Sterben keine Ausnahme. An Mariahs letztem Tag auf Erden hatte ihre Nichte Aubrey, mit den Maschen eines Spitzenschals aus Mohair zwischen den Fingern, in der Strickstube ihres gemeinsamen Hauses in Tarrytown gesessen. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie eingenickt war und ihr Geist auf träumerischen Nebenwegen wandelte, während ihre Nadeln weiter durch die Maschen tanzten, bis Mariah im Türrahmen aufgetaucht war.
»Oh, gut. Aubrey, ich wollte dir noch etwas sagen.«
Aubrey sah von ihrem Strickzeug auf. Zwischen den Türpfosten neigte sich Mariah zur Seite, wie eine breite Fahne, die in einer sanften Brise weht. Sie trug ein langes, unförmiges Baumwollkleid, das so frisch und weiß war, dass es beinahe leuchtete.
»Wieso bist du schon zurück?«, fragte Aubrey. »Ich dachte, du hast einen Termin bei Gemeinderat Halpern. Hast du irgendetwas vergessen?«
»Ja … Ich glaube, das habe ich.«
»Ganz gleich, was es auch war, ich hätte es dir doch gebracht, wenn du mich angerufen hättest«, sagte Aubrey leicht tadelnd. »Was brauchst du?«
Mariah antwortete nicht. Ihre Augen waren weit geöffnet,ihr Blick war verwirrt wie der eines schläfrigen Kindes. Sie murmelte etwas mit halbgeöffneten Lippen.
»Mariah?« Aubrey unterbrach ihr Stricken am Ende einer Reihe und ließ die Hände sinken. Der Schal lag, von der Sonne beschienen, zerknittert und gelb wie Herbstlaub, auf ihrem Schoß. »Was ist los? Was fehlt dir?«
»Da ist etwas, das ich dir sagen wollte …«
»Na, dann schieß los.«
»Etwas …«
»Hey. Alles in Ordnung?«
Aubrey sah, wie die Pupillen ihrer Tante zu kleinen schwarzen Punkten zusammenschrumpften. Ihre Augen schienen sich auf etwas zu richten, das Aubrey nicht sehen konnte, vielleicht auf ein in der Luft wirbelndes Staubkorn oder irgendeinen geheimen Gedanken, der so tief in Mariahs grauen Zellen verankert war, dass ihr leerer Blick abdriftete wie ein Boot von seinem Ankerplatz. Mariah war von mittlerer Größe, hatte dabei einen beachtlichen Körperumfang, und ihr langes, dünnes Haar umfloss ihre Schultern in taubengrauen Wellen. Sie war schon in ihrer Jugend keine Schönheit gewesen, hatte jedoch freundlich blickende Augen und ein wohlwollendes Lächeln, das von ausgeprägten, aber einnehmenden Falten begleitet wurde. Die von hinten auf sie fallende Sonne überzog ihr Haar und den weißen Saum ihres Kleides mit Silberglanz.
»Ach, nun ja. Ich schätze, du wirst es selbst herausfinden müssen.« Mariah seufzte leicht und trat dann aus der Strickstube und außer Sichtweite.
Aubrey legte ihr Strickzeug beiseite und lief über die breiten Holzdielen zur Zimmertür. Ihr war schwindlig, als würden all ihre Sorgen sie auf einmal überschwemmen. Mariahs gesundheitlicher Zustand hatte sich in den letzten Jahren verschlechtert, und Aubrey fürchtete, ihre Tante könnte einen Schlaganfall erlitten haben. Die Ärztehatten sie davor gewarnt. Aubrey spähte hinter den Türpfosten, doch Mariah war verschwunden, und kein einziges Geräusch verriet die Richtung, in die sie gegangen war.
Das gibt’s doch gar nicht, dachte Aubrey.
Trotzdem rief sie die Treppe hinauf: »Mariah?« Sie rief den Flur hinunter: »Hey, Mari?«
Beim Klingeln des Telefons zuckte sie zusammen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Langsam nahm sie den Hörer ab. »Ja?«
»Aubrey Van Ripper?«, fragte sie eine fremde Stimme.
In diesem Augenblick wusste Aubrey, noch bevor man es ihr gesagt hatte, dass ihre Tante nicht in die Strickerei zurückgekehrt war, weil sie etwas vergessen hatte. Tatsächlich war sie überhaupt nicht in der Strickerei. Und Aubrey kam der Gedanke, wie geschmacklos es doch eigentlich sei, dass etwas so Intimes und Privates wie die Nachricht eines Todes von Fremden überbracht wurde.
Zum ersten Mal in ihrem Leben war Aubrey allein, vollkommen und endgültig und unerwartet, allein in diesem Augenblick und für immer, während ihre Nadeln auf einem Tisch in der Strickstube ruhten, ihr Ohr vom Druck des Telefonhörers heiß wurde und die Worte einer Fremden von irgendwoher auf sie eindrangen und ihr erklärten, was sich am anderen Ende der Stadt ereignet hatte.
* * *
In seinem privaten Büro in der Nähe des Gemeindezentrums von Tarrytown, verborgen hinter neokolonialistischen Säulen und flämischem Mauerwerk, schenkte sich Gemeinderat Steve Halpern aus dem kleinen Flachmann,
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