Die Wundärztin
gereicht. Zum ersten Mal hatte sie die Rolle damals in Amöneburg in Händen gehalten, ausgerechnet an jenem Tag, an dem die schicksalhaften Ereignisse ihren Lauf nahmen. Als wäre es gestern gewesen, erinnerte sie sich an jede Einzelheit. Nie hatte der Feldscher ihr verraten, woher er das wertvolle Besteck hatte. Eric war der erste Patient gewesen, bei dessen Verletzungen es zum Einsatz gekommen war. Wie viele Stunden hatte sie die Instrumente hinterher gesäubert und auf Hochglanz gebracht! Sie schluckte die Tränen hinunter.
Als sie die Rolle verschnüren wollte, fiel ihr ein kleines Papier in die Hände. »Für Magdalena« stand darauf. Mehr nicht. Es genügte, sie auf dem Tisch niedersinken und in Tränen ausbrechen zu lassen. Wer hatte nach Meister Johanns Tod gewusst, dass sie damit gemeint war? Und woher hatte dieser Unbekannte gewusst, wo sie inzwischen zu finden war? Wie so oft dachte sie an die unergründlichen Verbindungen, die Eric überall im Land unterhielt. Darüber musste auch das Etui seinen Weg zu ihr gefunden haben.
Sie wusste hinterher nicht mehr, wie lange sie so dagesessen und geweint hatte. Als sie den Kopf hob, weil sie Erics Hand auf der Schulter spürte, war es dunkel geworden. Eric entzündete eine Lampe und betrachtete sie mit sorgenvoll gerunzelter Stirn. Im flackernden Schein sah er müde aus. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass er die dreißig überschritten hatte. Aus seinem rotblonden Haar stachen einzelne weiße Fäden heraus. Die Falten oberhalb der Nasenwurzel blieben stehen, selbst wenn er aufmunternd zu lächeln begann. Der tiefgründige Blick aus seinen blauen Augen wirkte ein wenig erschöpft. Zwei mal zwei Jahre, über die er kaum ein Wort verlor, hatten ihre Spuren hinterlassen. Längst hatte sie es aufgegeben, ihn nach der Zeit zwischen Freiburg und Amöneburg und nachher auf Bertas Gehöft zu fragen. Von sich aus verlor er nie eine Silbe darüber.
Eines Tages, das hatte sie inzwischen begriffen, würde er anfangen zu reden. Bis dahin musste sie warten und sich mit dem wenigen begnügen, was sie gleich bei ihrem Wiedersehen im November 1648 beredet und was ihr andere erzählt hatten. Das musste reichen, um zu wissen, dass sie das Richtige getan hatte, als sie zusammen mit Meister Johann seine Flucht in die Wege geleitet hatte. Carlotta zumindest trug ihr nicht nach, dass sie zwei Jahre getrennt gewesen waren. Längst hatte sie jede Erinnerung daran verloren. Sogar Elsbeth, die sie immerhin genährt und in dieser Zeit wie eine Mutter umsorgt hatte, war aus ihrem Gedächtnis verschwunden.
Magdalena wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln, erhob sich und stellte sich dicht neben Eric.
»Jetzt sind alle tot«, sagte sie leise.
»Alle nicht.« Eric schüttelte sacht den Kopf. »Carlotta, du und ich, wir leben noch.«
»Und wir sind wieder zusammen.«
»Weil du uns wiedergefunden hast«, ergänzte er und nahm sie zärtlich in den Arm.
»Ich habe dir doch gesagt: Ich werde dich immer finden, ganz gleich, wo du steckst, und ganz gleich, ob ich deine Geheimnisse kenne. Du entkommst mir einfach nicht.«
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Nachbemerkung
D er Dreißigjährige Krieg markiert einen epochalen Umbruch in der deutschen wie in der europäischen Geschichte. 1618 zunächst als Streit um den rechten Glauben begonnen, zeigt das Geschehen bald sein wahres Gesicht, und es entspinnt sich ein Jahrzehnte währendes Ringen um Macht, Einfluss und Geld. Wer dabei wann genau gegen wen mit welchen Motiven kämpft, ist schon für die Zeitgenossen nicht immer leicht zu entscheiden. Auf den höheren Ebenen geht es zunehmend um den Ausbau und Erhalt von Machtpositionen, während ein Großteil der Bevölkerung ums nackte Überleben ringt, ungeachtet dessen, ob es sich um Bauern und Städter oder um Söldner und Trossangehörige handelt. In den anfangs als rein katholisch, protestantisch, kaiserlich oder schwedisch konstituierten Regimentern kämpfen bald die verschiedenen Konfessionen und Nationen mit- und gegeneinander. Das Auftauchen der eigenen Regimenter wird in den vom Krieg betroffenen Regionen oft sogar als schlimmer empfunden als der Überfall feindlicher Truppen.
Doch der »Große Krieg« hat nicht alle Gegenden Deutschlands gleichermaßen erfasst, auch bedeutet er nicht nur Hunger, Elend und Tod für die Betroffenen. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem allgegenwärtigen Sterben entwickeln die Menschen jener Epoche eine besondere Fähigkeit, das Glück des Augenblicks zu erfassen und
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