Die Zeit der Hundert Königreiche - 4
ja bei uns, daß sie das Gesicht benutzt. «
Bard blickte zu Mirella hin. Im rieselnden Schnee saß sie auf ihrem Pferd. Durch die dick beschneiten Zöpfe leuchtete die Kupferfarbe ihres Haares. Sie starrte in ihren Kristall. Bläuliches Licht spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider. Das einzige Licht an diesem scheußlich trüben Tag schienen der blaue Stein und die Flamme
ihres kupfrigen Haars zu sein. Sie war mit Mantel und Schals verhüllt, aber diese konnten die schlanke Anmut ihres Körpers nicht verstecken. Wieder einmal ertappte Bard sich dabei, daß seine Gedanken bei ihrer Schönheit verweilten. Zweifellos war sie das schönste junge Mädchen, das er je gesehen hatte. Verglichen mit ihr war Carlina ein blasser Stock. Doch Mirella war völlig außerhalb seiner Reichweite, sakrosankt, eine Leronis, die des Gesichts wegen Jungfräulichkeit gelobt hatte. Er sagte sich, mit seiner Gabe könnte er sich vergewissern, daß es nicht gegen ihren Willen sei. Er könnte sie zwingen, freiwillig in sein Bett zu kommen …
Aber damit würde er sich Meister Gareth zum Feind machen. Verdammt, es gab genug willige Weiber in dieser Welt, und er war mit einer Prinzessin verlobt, und auf jeden Fall war jetzt nicht die richtige Zeit, überhaupt an Frauen zu denken!
Mirella seufzte und öffnete die Augen. Auf ihrem Gesicht verblaßte der blaue Schein, und ihr Blick ruhte auf Bard, scheu, ernst, so direkt, daß Bard sich ein wenig verlegen fragte, ob sie lesen könne, was er gerade gedacht hatte.
Sie sagte jedoch nur mit ihrer schwebenden Stimme: »Sie sind nicht weit von uns entfernt, vai dom. Ein Ritt von drei Stunden über jenen Grat dort … « Sie wies die Richtung, aber der Grat, von dem sie sprach, war im fallenden Schnee unsichtbar. »Sie haben Lager gemacht, weil der Schnee dort noch tiefer ist und ihre Karren nicht weiterkönnen. Sie stecken bis zu den Naben der Räder fest, und die Zugtiere können sich nicht mehr bewegen. Eins hat im Geschirr ein Bein gebrochen, und die anderen versuchten durchzugehen und traten sich beinahe gegenseitig zu, Tode. Wenn wir so weiterreiten wie jetzt, werden wir sie bald nach Mittag erreichen.«
Bard ritt davon, um diese Nachricht an seine Männer weiterzugeben. Sie waren darüber gar nicht erfreut.
»Das heißt, wir müssen in tiefem Schnee kämpfen! Und was tun wir mit der Karawane, nachdem wir sie erbeutet haben, wenn die Zugtiere unbrauchbar sind?« erkundigte ein alter Veteran sich mißmutig. »Ich schlage vor, wir lagern hier und warten auf Tauwetter, bei dem wir die Wagen leichter nehmen können. Wenn sie unfähig sind weiterzuziehen, warten sie dort auf uns! «
»Uns werden das Essen und das Futter für die Pferde ausgehen«, gab Bard zu bedenken, »und es ist zu unserem Vorteil, wenn wir den Zeitpunkt der Schlacht bestimmen. Los, wir wollen so früh wie möglich dort sein! «
Sie ritten weiter, und immer noch fiel Schnee. Bard betrachtete stirnrunzelnd die grau verhüllten Leroni. Schließlich ritt er nach vorn und fragte Meister Gareth: »Wie sollen wir die Frauen während der Schlacht schützen, Sir? Wir haben keinen Mann übrig, der sie bewachen kann.«
Ach habe es Euch bereits gesagt«, antwortete Meister Gareth. »Diese Frauen sind fähige Leroni, sie können für sich selbst sorgen. Melora ist schon in einer Schlacht gewesen, und obwohl das auf Mirella nicht zutrifft, habe ich doch keine Angst um sie.«
»Aber diese Männer, gegen die wir kämpfen müssen, sind von Söldnern aus den Trockenstädten begleitet«, erklärte Bard. »Und wenn Eure Tochter und Eure Pflegetochter gefangengenommen werden - ob sie nun Leroni sind oder nicht -, wird man sie in Ketten fortführen und an ein Bordell in Daillon verkaufen.«
Melora schaukelte auf ihrem Esel näher. »Ängstigt Euch nicht um uns, vai dom « Sie legte die Hand auf den kleinen Dolch, der ihr unter dem Mantel am Gürtel hing. »Meine Schwester und ich werden nicht lebend in die Hände der Trockenstädter fallen.«
Die ruhige, sachliche Art, in der sie sprach, schickte einen kalten Schauer über Bards Rückgrat. Merkwürdigerweise spürte er eine Art Verwandtschaft zwischen sich und dieser Frau. Auch er hatte schon früh gelernt, daß ihn in einer Schlacht der Tod oder Schlimmeres ereilen konnte, und der Unterton in Meloras Stimme ließ ihn an seine eigenen ersten Kämpfe denken. Unwillkürlich lächelte er sie an, mit einem schmallippigen, spontanen Grinsen. Er sagte: »Die Göttin möge verhüten, daß es dazu kommt,
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