Die Zeit der Hundert Königreiche - 4
er einen aufgedämmten Bach, der eine Filzmühle antrieb, wo Federschoten-Fasern zu Einlagen für Steppdecken verarbeitet wurden. Es gab ein Dorf von Webern. Bard erinnerte sich, daß sie wunderschöne karierte Stoffe für Röcke und Tücher herstellten. Nirgendwo waren Spuren von Verteidigungsanlagen zu
entdecken.
Wenn dies Land bewaffnet wäre, dachte Bard, und man Soldaten in den Dörfern einquartierte, wäre es ein ausgezeichneter Pufferstaat, der die Serrais-Armeen von Asturias abhalten konnte, und umgekehrt könnten die Männer von Asturias Marenji schützen. Davon müßte man den Sheriff von Marenji überzeugen. Und wenn er es nicht einsah, nun, es war keine Armee vorhanden, die hätte Widerstand leisten können. Sobald er wieder zu Hause war, wollte er seinem Vater raten, möglichst bald Bewaffnete in Marenji zu stationieren. Während sie weiterritten, wurde das Land dunkler. Sie zogen im Schatten der hohen Berge dahin, vorbei an Seen und nebligen Weihern. Man sah immer weniger Bauernhöfe, nur noch hier und da ein isoliertes Anwesen. Melisandra und der Junge ritten dicht beieinander und sahen aus, als sei ihnen unbehaglich zumute. Bard rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was er über die Priesterinnen Avarras wußte. Seit Menschengedenken lebten sie auf der Insel im Mittelpunkt des Sees des Schweigens, und es war immer Gesetz gewesen, daß jeder Mann sterben mußte, der den Fuß auf diese Insel setzte. Es hieß, daß die Priesterinnen das Gelübde ablegten, ihr ganzes Leben in Keuschheit und im Gebet zu verbringen. Aber außer den Priesterinnen suchten viele andere Frauen, Ehefrauen und Jungfrauen und Witwen, aus Frömmigkeit oder weil sie Trost in irgendeinem Leid suchten oder Buße tun wollten, die Insel auf, um dort eine Zeitlang unter dem Mantel Avarras, der Dunklen Mutter, zu verweilen. Und wer sie auch sein mochten, wenn sie Avarra anbeteten und während ihres Aufenthalts die Kleidung der Schwesternschaft trugen und mit keinem Mann sprachen und keusch lebten, dann durften sie bleiben, solange sie wollten. Kein Mann wußte genau, was unter ihnen vor sich ging, und die Frauen, die dort gewesen waren, hatten schwören müssen, niemals darüber zu sprechen.
Es waren Frauen, die verzweifelt waren über den Verlust eines Kindes oder Gatten, unfruchtbare Frauen, die sich nach Kindern lehnten, vorn Gebären ausgezehrte Frauen, die die Göttin um Gesundheit oder um Unfruchtbarkeit bitten wollten, Frauen, die unter irgendeinem Kummer litten. Sie alle gingen dort zum Schrein Avarras und beteten um die Hilfe der Priesterinnen oder die der Mutter.
Einmal hatte eine alte Frau, die Lady Jerana diente - Bard war noch so klein gewesen, daß er nicht weggejagt wurde, wenn die Frauen unter sich sprachen - in seiner Hörweite gesagt: »Das Geheimnis der Insel des Schweigens? Das Geheimnis ist, daß es gar keins gibt! Ich habe dort einmal eine Jahreszeit verbracht. Die Frauen leben in ihren Häusern, schweigend, keusch und allein, und sprechen nur, wenn es notwendig ist, oder um zu beten, zu heilen und zu helfen. Sie beten bei Tagesbeginn und Tagesende und beim Aufgang der Monde. Sie sind verpflichtet, jeder Frau zu helfen, die sie im Namen der Göttin darum bittet, ganz gleich, um welchen Kummer es sich handelt. Sie wissen eine Menge über Heilkräuter und Hausmittel, und als ich dort bei ihnen war, lehrten sie mich einiges darüber. Sie sind gute und heilige Frauen.«
Bard überlegte, wie man Frauen »gut« nennen könnte, die gelobt hatten, jeden Mann zu ermorden, der den Fuß auf die Insel setzte. Doch das wollte er einräumen (mit diesem Witz versuchte er, seine Angst zu verjagen), daß sie ganz anders als andere Frauen sein mußten, wenn sie schwiegen! Das war bei Frauen immer eine Tugend. Allerdings kam es ihm ganz verkehrt vor, daß Frauen allein und ohne Schutz lebten. Wäre er Sheriff von Marenji, würde er Soldaten mit dem Schutz der Frauen beauftragen.
Sie hatten jetzt den Rand eines Tals erreicht und blickten hinunter auf die weiten Wasser des Sees des Schweigens.
Es war ein ruhiger Ort, und ein unheimlicher. Als sie zum Ufer des Sees hinabritten, hörten sie kein Geräusch außer dem der Hufe ihrer Pferde und den Ruf eines Wasservogels, der sich, beim Brüten gestört, mit plötzlichem Kreischen in die Luft erhob. Dunkle Bäume streckten biegsame Äste über das dunkle Wasser, das vor der niedrigstehenden Abendsonne schwarz wirkte. Als sie näher kamen, hörten sie das klagende Quaken von Fröschen. Sie
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