Die Zerbrochene Kette - 6
Keine von uns wollte fürs ganze Leben dort bleiben, aber bevor ich den Turm verließ, um zu heiraten, lernten wir, gegenseitig unsere Gedanken zu lesen. Dann kam ihre Tragödie. In den darauffolgenden Jahren hatte ich die Sache so gut wie vergessen; für mich war Melora tot oder doch wenigstens völlig außerhalb der Reichweite meiner Gedanken. Dann – es ist nicht länger als vierzig Tage her – kam Melora über die große Entfernung zu mir, kam zu mir im Geist, wie wir es zu tun lernten, als wir junge Mädchen im Turm von Dalereuth waren…«
Ihre Stimme klang wie von weit weg; Kindra merkte, daß die rothaarige Frau nicht mehr zu ihr, sondern zu einer Erinnerung sprach. »Ich hätte sie fast nic ht wiedererkannt«, berichtete Rohana, sie hatte sich so sehr verändert. Nein, sie hatte sich nicht damit abgefunden, Jalaks Frau und Gefangene zu sein. Es war einfach so, daß sie…« – Rohanas Stimme schwankte – »… nicht die Ursache von noch mehr Tod und Qual sein wollte. Nun erfuhr ich, daß mein Bruder, ihr Pflegebruder, vor ihren Augen zu Tode gefoltert worden war, als Warnung für sie, damit sie keinen Retter mehr herbeirufe…«
Kindra verzog das Gesicht vor Entsetzen und Abscheu. Rohana brachte ihre Stimme mit großer Anstrengung wieder unter Kontrolle und fuhr fort: »Melora sagte mir, daß sie endlich, nach so vielen Jahren, mit Jalaks Sohn schwanger sei und daß sie lieber sterben als ihm einen Erben aus Comyn-Blut schenken wolle. Sie bat nicht für sich selbst um Befreiung. Ich glaube – ich glaube, sie möchte sterben. Doch sie will ihr anderes Kind nicht in Jalaks Händen lassen.«
»Ein anderes Kind?«
»Eine Tochter«, erklärte Rohana leise, »die sie gleich nach ihrer Gefangennahme empfangen hat. Zwölf Jahre alt. Alt genug…« – sie schluckte – »… alt genug, um Ketten angelegt zu bekommen.« Sie schluchzte und wandte das Gesicht ab. »Für sich selbst bat sie um nichts. Sie flehte mich nur an, ihre Tochter wegzuholen, von Jalak weg. Nur dann… nur dann könne sie in Frieden sterben.«
Kindras Gesicht war grimmig. Bevor ich eine Tochter gebären würde, damit sie als Gefangene, in Ketten in den Trockenstädten lebt, dachte sie, würde ich Hand an mich selbst und an das Leben in mir legen oder das Kind erwürgen, wenn es meinen Leib verließ! Die Frauen aus den Domänen sind weich, Feiglinge sind sie alle! Nichts davon klang in ihrer Stimme mit, als sie die Hand auf Rohanas Schulter legte und ruhig sagte: »Ich danke Euch, daß Ihr mir das erzählt habt, Lady. Ich hatte es nicht verstanden. Also geht es bei unserer Mission weniger darum, Eure Verwandte zu retten…«
»Als ihre Tochter zu befreien; das ist es, um was sie bat. Obwohl – wenn Melora befreit werden kann…«
»Nun, meine Gruppe und ich haben gelobt, alles zu tun, was wir können«, sagte Kindra. »Ihr werdet bald Eure ganze Kraft brauchen, Lady, und es ist weder Mut noch Klugheit in einem leeren Bauch. Es schickt sich nicht, daß ich einer Comynara Befehle erteile, aber wollt Ihr Euch jetzt nicht meinen Frauen anschließen und Eure Mahlzeit beenden?«
Rohana verließ das Zelt, und Kindra, die im Eingang stehenblieb, beobachtete, wie sie sich ans Feuer setzte und einen Teller mit dem Eintopf aus Fleisch und Bohnen entgegennahm.
Kindra folgte ihr nicht gleich; sie dachte darüber nach, was vor ihnen lag. Wenn es an Jalaks Ohren gelangte, daß Leute aus den Domänen in seiner Stadt waren, mochte er bereits auf der Hut sein. Oder verachtete er die Freien Amazonen so, daß es ihm nicht der Mühe wert schien, sich gegen ihren Angriff zu rüsten? Sie hätte darauf bestehen sollen, daß sich Lady Rohana das Haar färbte. Sollte einem Spion Jalaks eine rothaarige Comyn-Frau auffallen… Ich hätte nie gedacht, daß sie bereit wäre, es abzuschneiden.
Mit einer unbewußten Geste berührte Kindra ihr kurzes, ergrauendes Haar. Sie war nicht in die Gilde der Freien Amazonen hineingeboren worden; sie war ihr beigetreten, und die Erinnerung an das, was sie dazu veranlaßt hatte, schmerzte immer noch so sehr, daß ihre Lippen schmal wurden und ihre Augen sich grimmig in weite Fernen richteten. Sie sah zu Rohana hin, die im Kreis der Amazonen am Feuer saß, ihre Suppe löffelte und dem Gespräch der Frauen lauschte. Ich war früher einmal ganz wie sie: gefügig mich einordnend in das einzige Leben, das ich k annte. Ich faßte den Entschluß, mich selbst zu befreien. Rohana hat eine andere Wahl getroffen. Auch mit ihr habe ich kein
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