Die Zwerge
Haupthaus. Dort? »Gebt auf die Umgebung Acht«, rief er. »Ich will herausfinden, was mit Gorén geschehen ist.«
»Also, unter diesen Umständen betrete ich die Siedlung«, hörte er Boїndil heiter sagen. »Vielleicht treffen wir hier auf die eine oder andere Schweineschnauze.«
Während die Zwillinge ihm auf die Lichtung folgten und die Ruinen sicherten, erklomm Tungdil vorsichtig die halb eingestürzte, angebrannte Treppe des Haupthauses; die Stiegen ächzten unter seinem Gewicht, doch er erreichte unbeschadet die rußgeschwärzte Plattform und betrat den ersten Stock.
Das Haus war fünfeckig um den gigantischen Baum herum gebaut worden; die Gänge, die von Raum zu Raum führten, waren zum Stamm hin offen gelassen, sodass man ihn von allen Seiten aus sah. Kleinere Hängebrücken führten zu den dicken Ästen, wo die zerschlagenen Überbleibsel von bunten Lampions traurig hin und her pendelten.
Die ersten großen Blätter lösten sich von den Zweigen und schwebten der Erde entgegen, als trauerte der Baum um die Toten, mit denen er jahrelang in enger Verbundenheit gelebt hatte.
Tungdil riss sich von dem Anblick des fallenden Laubes los und durchsuchte die Zimmer, ohne auf Überlebende zu stoßen. Dafür entdeckte er in der vom Feuer weitgehend verschonten Bibliothek einen gesiegelten Umschlag mit Lot-Ionans Namen darauf und einen in Tücher eingewickelten Gegenstand.
Der Zwerg zögerte. Es ist eine Notlage, sagte er sich und brach das Siegel, las die Zeilen und seufzte. Noch mehr Dinge, die ich überbringen soll. Gorén bedankte sich in dem Brief dafür, die Bücher gelesen haben zu dürfen. Er hatte sie wohl bereit gelegt, um sie einem Boten anzuvertrauen. Dieser Bote hieß ab sofort Tungdil.
Der Zwerg fand darin außerdem einen weiteren Brief, der in der für ihn unverständlichen Sprache der hochgradigen Gelehrten abgefasst war; diese Nachricht konnte nur sein Magus lesen. Er verstaute die neue Last in seinem Rucksack und suchte weiter.
Ein Beben lief durch das Haus. Es begann mit einem Zittern, das sich verstärkte und die Balken ordentlich durchschüttelte. Krachend und knackend protestierte das Gebäude, dann endete das Beben so unvermittelt, wie es angefangen hatte. Der Zwerg verstand es als Zeichen, das Baumhaus zu verlassen.
Er trat hinaus auf den Gang und staunte. Der Baum hatte seine Position verändert, seine kahlen Äste stemmten sich gegen die Pfeiler und drückten dagegen, wie er am Knarren vernahm. Der Stamm neigte sich hölzern aufstöhnend nach links, ein knorriger Ast schwenkte in die Richtung des Zwerges.
»Was soll das?! Boїndil hat den jungen Baum vorhin zerhackt, nicht ich!«
Doch das kümmerte den zornigen Baum nicht, und er schlug nach ihm. Tungdil bückte sich rechzeitig. Das keulenartige Endstück verfehlte ihn und zerstörte die Bretterwand hinter ihm. Er hastete zur Treppe und stand vor einer Wand aus Weiß. Zuerst dachte Tungdil, er stünde in einem Schneesturm, bis er begriff, dass es die abgeworfenen Blüten und Blätter sämtlicher Pflanzen des Hains waren, die um ihn herumwirbelten. Der Wald rauschte und schleuderte sein Laub von sich, die zerstörte Harmonie wandelte sich zu Hass.
Wieder erbebte das Haus, Balken brachen, Teile stürzten in die Tiefe. Der Zwerg lief die Stufen hinunter, um auf sicheren Boden zu gelangen.
Die Zwillinge wunderten sich genauso wie er. Sie hatten ihre Waffen gepackt und verfolgten die wundersame Veränderung skeptisch.
»Das muss verfluchte Elbenmagie sein«, rief Boїndil gegen das laute Rauschen. »Sie haben den Hain gegen uns aufgehetzt!«
»Wir müssen von hier weg«, rief Tungdil ihnen zu. »Die Bäume wollen jeden bestrafen, der …« Es verschlug ihm die Sprache, als eine Palandiell-Buche ihr welkes Grün um sich herum verteilte und den Blick auf ihre nackten Äste freigab. Sie zeigte ihm Grausiges.
Er hatte die Elbin gefunden. Ihr schneeweißes, anmutiges Antlitz hob sich ohne den Schutz der blickdichten Blätter gegen die dunkle Rinde ab. Vom Hals abwärts war sie nur mehr ein blutrotes, feucht glitzerndes Skelett, an dem kein Stückchen Fleisch hing; lange Nägel steckten in ihren dünnen Knochen und hielten sie aufrecht stehend am Stamm.
Der Anblick ging selbst den beiden hart gesottenen Zwergen unter die Haut. »Bei den Feuern von Vraccas’ Esse, was geht hier vor?«, meinte Boëndal.
»Weg hier«, stimmte sein Bruder zu, »bevor das Gleiche mit uns geschieht.«
»Erst muss ich wissen, was mit Gorén ist. Ich sehe mich
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