Nachsuche
1. Falsche Fährte
Noldi, der Polizist, liegt im Bett und schläft. Seine Frau liegt neben ihm. Er hält mit der linken Hand ihre Brust. Kein Laut ausser ihren ruhigen Atemzügen stört die nächtliche Stille. Da schlägt das Telefon an. Noldi erwacht und flucht, Meret dreht sich auf die andere Seite. Endlich schafft er es, aus dem Bett zu kriechen und den Hörer abzunehmen.
»Polizist Oberholzer«, meldet er sich mit belegter Stimme.
Am Abend vorher ist es spät geworden. Er hat beim Kegeln einen Kranz geschossen, was selten vorkommt, und aus Siegesfreude ein Bier zu viel getrunken. Und wie es sein muss, ruft ausgerechnet in dieser Nacht einer an.
»Ist dort die Polizei?«, keucht die Männerstimme. »Sie müssen kommen, ich habe ein Reh angefahren.«
»Moment, Moment«, sagt Noldi, »wer sind Sie?«
»Rüdisühli, Eduard Rüdisühli, Sie müssen sofort kommen, ich brauche eine Bestätigung, Sie wissen schon, für die Versicherung.«
Noldi fragt: »Und das Reh?«
Darauf der andere: »Keine Ahnung, es ist weg.«
Noldi denkt, das arme Reh interessiert den Kerl überhaupt nicht. Unwirsch fragt er: »Und wo ist es passiert?«
»Zwischen Oberhofen und Neubrunn, die Kurve, wo der Wald bis an die Straße reicht.«
Noldi befiehlt: »Sie rühren sich nicht vom Fleck, bis jemand kommt.«
Dann unterbricht er die Verbindung, um sofort seinen Schwager, den Jagdaufseher, anzurufen. Der soll gehen, dazu ist er verpflichtet. Er, als Polizist, hat anderes zu tun. In diesem Fall, denkt Noldi schadenfroh, einfach wieder ins Bett zu kriechen.
Auch Hans Hablützel flucht, nicht weil es so früh ist, das macht ihm nichts aus. Er geht jeden Tag schon vor Morgengrauen ins Revier. Sondern wegen der Nachsuche. Angefahrene Tiere aufzuspüren, ist eine heikle Sache. Meist sind sie innerlich verletzt und hinterlassen kaum eine Schweißspur. Hablützel regt sich über die sinnlose Raserei der Autofahrer auf, die immer wieder zu solchen Unfällen führt.
Freude hat zunächst nur Hablützels Hund. Er glaubt, es ginge auf die Jagd. Als er aber sieht, dass sein Herr die Schweißleine vom Haken nimmt, zieht er sich eilig wieder in seinen Korb zurück. Er schätzt die Nachsuche nach verletzten oder verendeten Tieren bei Weitem nicht so wie eine Pirsch.
Hablützel dagegen findet, es sei eine gute Gelegenheit, Bayj wieder einmal richtig dranzunehmen, gerade weil er weiß, dass sein Hund von dieser Arbeit nicht begeistert ist.
»Also, Bayj«, sagt er, »raus!«
Der Hund folgt nur widerwillig. Man kann den Stimmungsumschwung deutlich an den müden Bewegungen seiner Rute erkennen.
Bevor Hablützel das Haus verlässt, nimmt er den stets bereiten Rucksack, stülpt sich den Hut auf den Kopf, und Bayj bekommt einen aufmunternden Klaps auf sein Hinterteil.
In der Garage springt der Hund wie immer als erster ins Auto. Sein Herr folgt, startet, hält draußen noch einmal, um das Tor zu schließen.
Es ist Anfang November, noch Nacht, neblig und kalt.
Hans Hablützel biegt in die Tösstalstraße ein. Sie führt durch ganz Turbenthal. Das alte Straßendorf, das erst später in die Tiefe wuchs, gehört zu jenen Siedlungen, die im Tösstal entstanden, als man für die Industrialisierung auf Wasserkraft angewiesen war. Vorwiegend Spinnereien ließen sich hier nieder. Noch heute kann man Überreste alter Leitungen und Kanäle entdecken, welche das Wasser aus künstlich angelegten Weihern ins Tal und auf die Wasserräder des aufkommenden Gewerbes leiteten.
Hablützel fährt bis zur Kirche mit dem Hahn auf der Turmspitze, an der man sieht, dass die Dorfbewohner vorwiegend reformiert sind. Erst mit dem Einzug der italienischen Gastarbeiter wurde ein katholisches Gotteshaus erbaut, sehr zum Ärger der Protestanten. Inzwischen gibt es auch eine Methodisten-Kapelle.
Hablützel hat vom Schwager nur die dürftigen Ortsangaben erhalten, welche der Autofahrer liefern konnte. Er biegt in Richtung Bichelsee ab. Das Tal, in das sie fahren, ist weit. Rechts und links der Straße liegen Wiesen, dann steigen bewaldete Hänge steil an.
Hans schmunzelt in sich hinein. Er weiß genau, dass der Schwager sich nach dem Telefonat sofort wieder ins warme Bett verkrochen hat. Er hat die krächzende Stimme gehört und erinnert sich noch zu gut an das feuchtfröhliche Fest vom Vorabend. Er kennt Oberholzer, der verträgt nicht viel. So ist sein unerwartetes Glanzresultat vor allem für die anderen Kegelbrüder ein willkommener Grund zum Anstoßen gewesen.
Als sie zu der
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