Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
waren. Sein Videoblog– zwei Millionen Hits gleich am ersten Tag– war auf mehr als dreihundert Spiegelservern, und ständig kamen neue dazu. Es dauerte keine Woche, und die ganze Welt kannte ihn. Twitter, Facebook, Headshot, Sphere– die Bilder fanden ihren Weg in den Äther, ohne dass er einen Finger dafür rührte. Eine seiner Fanseiten allein hatte schon über vier Millionen Besucher, und auf Ebay waren T-Shirts mit der Aufschrift » ICH BIN DER LAST STAND IN DENVER « der große Renner.
Sein Vater hatte immer gesagt: Sohn, das Wichtigste im Leben ist, dass man einen Beitrag leistet. Wer hätte gedacht, dass Kittridges Beitrag ein Videoblog vom Ground Zero der Apokalypse sein würde?
Und trotzdem drehte die Welt sich weiter. Die Sonne schien noch immer. Im Westen hoben die Berge ihre wuchtigen Felsenschultern, gleichgültig ob des Verschwindens der Menschen. Eine Zeitlang hatte es eine Menge Rauch gegeben– ganze Häuserblocks waren niedergebrannt–, aber der war inzwischen verweht, und der trostlose Anblick der Stadt zeigte sich einem dadurch mit gespenstischer Klarheit. Nachts versanken ganze Bezirke in schwarzer Finsternis, während anderswo immer noch ein paar Lichter im Dunkel funkelten– flackernde Straßenlaternen, Tankstellen und Supermärkte mit ihrer auffälligen Neonbeleuchtung, Verandalampen, die auf die Rückkehr ihrer Eigentümer warteten. Während Kittridge auf dem Balkon Wache hielt, wechselte neunzehn Stockwerke tiefer immer noch eine Verkehrsampel pflichtbewusst von Grün über Gelb zu Rot und wieder zurück zu Grün.
Einsam war er nicht. Die Einsamkeit hatte ihn schon vor langer Zeit verlassen. Er war vierunddreißig Jahre alt. Ein bisschen schwerer, als ihm lieb war– mit dem Bein war es nicht einfach, schlank zu bleiben–, aber immer noch kräftig. Er war mal verheiratet gewesen, vor vielen Jahren. Er erinnerte sich an diesen Lebensabschnitt: achtzehn sexbesessene Monate ehelichen Glücks, gefolgt von ebenso vielen Monaten voller Geschrei und Gebrüll, Vorwürfen und Gegenvorwürfen, bis das ganze Ding untergegangen war wie ein Stein. Alles in allem war er froh, dass aus dieser Ehe keine Kinder hervorgegangen waren. Seine Beziehung zu Denver hatte weder sentimentale noch persönliche Gründe; er war einfach hier gelandet, als er aus dem Veteranenhilfsprogramm gekommen war. Alle hatten gemeint, ein dekorierter Kriegsveteran sollte wenig Mühe haben, Arbeit zu finden. Das stimmte vielleicht auch. Doch Kittridge hatte es nicht eilig gehabt. Er hatte das erste Jahr fast nur mit Lesen zugebracht– anfangs das übliche Zeug, Krimis und Thriller, dann hatte er den Weg zu gehaltvolleren Büchern gefunden: Als ich im Sterben lag, Wem die Stunde schlägt, Huckleberry Finn, Der große Gatsby. Einen ganzen Monat hatte er mit Melville verbracht und sich durch Moby Dick gewühlt. Größtenteils waren es Bücher, von denen er glaubte, er sollte sie lesen, weil er sie in der Schule irgendwie verpasst hatte, aber er stellte fest, dass ihm die meisten wirklich gefielen. Wenn er so in seiner stillen Ein-Zimmer-Wohnung saß und seine Gedanken sich in anderen Lebensgeschichten und Zeiten verloren, war es, als trinke er in tiefen Zügen, nachdem er jahrelang Durst gehabt hatte. Er hatte sogar ein paar Kurse an der Volkshochschule belegt; tagsüber hatte er bei Outdoor World gejobbt und abends und in der Mittagspause seine Referate geschrieben. Etwas auf den Seiten dieser Bücher bewirkte, dass es ihm besser ging. Es war wie ein Rettungsfloß, an dem er sich festhalten konnte, bevor die dunklen Fluten seiner Erinnerungen ihn wieder stromabwärts rissen, und an helleren Tagen konnte er sich sogar vorstellen, dass es eine Weile so weitergehen könnte. Ein unbedeutendes, aber passables Leben.
Doch dann war das Ende der Welt gekommen.
An dem Morgen, als der Strom ausfiel, hatte Kittridge gerade das Bildmaterial der vergangenen Nacht hochgeladen. Er saß auf der Terrasse und las die Geschichte aus zwei Städten – der englische Anwalt Sydney Carton hatte Lucie Manette, der Verlobten des unglücklichen Idealisten Charles Darnay, soeben seine unsterbliche Liebe erklärt–, als ihm der Gedanke kam, dass dieser Morgen eigentlich nur durch eine Portion Eis noch verbessert werden konnte. In Warrens riesiger Küche– man hätte ein Fünf-Sterne-Restaurant damit bekochen können– war erwartungsgemäß fast nichts zu essen gewesen. Die vergammelten Fertiggerichte, die als Einziges im Kühlschrank waren, hatte
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