Diebin der Zeit
Jüngling richteten, aus dessen Schulter zwei Köpfe wuchsen. Er blinzelte kurz, und einen Wimpernschlag später stand er aufrecht vor Hermes/Eucharius und Rößlin - ohne daß einer von ihnen zu sagen vermocht hätte, wie er so schnell und sicher aufgestanden war.
Sein Blick löste sich von dem Mißgeborenen, streifte den Besitzer der Wanderschau nur flüchtig und wandte sich dann in die Richtung, aus der die Schreie gekommen waren. Zu dem Bauernhof, der von diesem Moment an stiller und verlassener wirkte als irgendein Platz sonst auf der Welt.
»Wohin wollt ihr?« fragte der kostbar gekleidete Mann, dessen Tracht jedoch an einigen Stellen von etwas durchtränkt war, das dunkle Flecken hinterlassen hatte.
Eucharius fühlte das Herz im Halse schlagen - und was das anging, konnte es seinem Bruder kaum besser ergehen. Eine seltsame Benommenheit griff nach ihm - der übermächtige Wunsch, dem Fremden zu antworten, und zwar unverzüglich.
Rößlin kam ihm zuvor.
»In die Stadt hinein«, sagte er. »Paris hat Vergleichbares wie uns noch nie gesehen. Wir waren zu Gast in vielen großen Städten .«
Aber auch in ganz erbärmlichen, in denen sie uns zum Ergötzen der Leute fast gesteinigt hätten, dachte Eucharius dumpf. Er wollte den Blick von dem Fremden wenden, aber er konnte es nicht.
»Paris wird noch länger auf euch warten müssen!« sagte der Mann - und wieder spähte er zu dem fernen Gehöft, als lauere dort eine Gefahr, die auch er zu fürchten hatte. »Los, beeilt euch! Wendet die Wagen, und dann fahrt, was das Zeug hält, gen Westen! Bringt die aufgehende Sonne in euren Rücken! Sofort!«
Verwundert beobachtete Eucharius, wie Rößlin ohne Widerworte auf dem Absatz kehrtmachte und hölzern zu seinem Wohnwagen zurückstiefelte. Unterwegs brüllte er Anweisungen, die genau das beinhalteten, was der Fremde ihm soeben aufgetragen hatte .!
Nicht nur Hermes starrte fassungslos, aber im Gegensatz zu ihm wünschte sich Eucharius inständig, der Bruder möge ihrem gemeinsamen Körper erlauben, sich Rößlin anzuschließen.
Er tat es nicht, und so nahm das Unheil seinen Lauf.
Hermes ließ sich auch durch Bertholds Zurufe nicht daran hindern, einen Schritt auf den Fremden zuzutun, der immer noch an derselben Stelle stand, wo er sich erhoben hatte.
Seine Augen waren schwarz wie Kohle, und ab und zu trieb etwas noch Schwärzeres darin vorbei.
»Was ist? Wollt ihr nicht aufsitzen und -?«
»Wer bist du Höllenbrut?« schrie Hermes ihn unvermittelt an. »Wie kannst du es wagen ...?«
Eucharius wäre am liebsten im Boden versunken, aber er war seinem Zwilling auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Die Natur hatte sie zusammengeschweißt, und bis an ihr beider Lebensende würde wohl nichts sie je trennen können .
Nichts?
Ansatzlos erfolgte die Attacke des Fremden, und ehe sich Hermes und Eucharius versahen, hatte er sie zu Boden gestoßen und sich über sie geworfen.
Ohne die geringste vorherige Warnung drehte er Hermes das Gesicht auf den Rücken. Es krachte fürchterlich, als die knöchernen Wirbel entzweigingen. Schmerz durchflutete Eucharius, gerade so, als handelte es sich um sein Genick, das da zersplitterte.
Hermes' Mundwerk klaffte auseinander, ohne daß jedoch der kleinste Schrei nach draußen drang. Nur ein rasch ersterbendes Röcheln quoll über des Bruders Lippen. Dann fiel sein Kopf schlaff zur Seite ins Gras.
Für Eucharius ging der Alptraum weiter. Süßlich verdorbener Atem trieb ihm aus dem Mund des Fremden entgegen, der schwer auf ihm lag und ihm keine Möglichkeit zur Gegenwehr ließ. Die beängstigende Kraft und Gewalt hatte sich erst gegen Hermes entla-den, und nun trachtete sie Eucharius nach dem Leben!
War der tyrannische Bruder wirklich tot?
Der Gedanke war von so elementarer Tragweite, daß Eucharius kurzzeitig sämtliche Angst abschüttelte. Doch auch das half ihm nicht viel - nicht gegen diesen Gegner.
Der sich verwandelte. Dessen Knochen und Gelenke hörbar knirschten, ähnlich, wenn auch um ein Beträchtliches leiser als vorhin die des Bruders. Die edlen Züge des Fremden entstellten zu einer Grimasse, die das Bestialische wiedergab, das unter der dünnen Tünche schlummerte. Spitze Zähne tobten wie die Instrumente eines studierten Arztes durch das Fleisch des Zwillings, rissen gräßliche Wunden und verweilten schließlich an seinem Halse, um - »Allmächtiger ...!«
Eucharius erstarrte. Das Schmatzen, das an sein Gehör drang, ließ ihn in eine tiefe Agonie verfallen. Er
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