Diebin der Zeit
erlaubt. Und jetzt laß mich allein. Ich muß nachdenken ...«
Die Kreatur gehorchte ohne Zögern. Ihre Schritte entfernten sich wieder. Landru blieb allein zurück. Allein.
Genau so fühlte er sich, aber das war nur ein schwacher Abglanz der verzehrenden Einsamkeit, unter der .
*
. sein Diener litt.
Eucharius trottete hin zu den klobig gezimmerten Wagen, die im Kreis um eine Feuerstelle herum aufgestellt waren. Die Zugtiere weideten abseits, während sich ungefähr die Hälfte der Schausteller und Zur-Schau-Gestellten im Freien aufhielt.
Rößlin war nicht darunter. Eucharius fand ihn in seiner mobilen Behausung. Ohne anzuklopfen betrat er den niedrigen Wohnwagens. Hermes' Kopf wackelte neben seinem eigenen. Ein hölzernes Gerüst, das der Meister gebaut hatte, verlieh ihm notdürftigen Halt. Die Augen standen immer noch offen, der Blick war eingefroren im Moment des Todes.
Rößlin sah von seinen über den Tisch verteilten Papieren auf, neben denen eine Lampe mit brennendem Docht stand. Er schaute zu Eucharius hinüber und senkte, nachdem er ihn erkannt hatte, den Blick sogleich wieder auf die Schriftstücke. Naserümpfend fluchte er: »Was hast du für einen Gestank mit hereingebracht?«
Eucharius roch nicht mehr das geringste, seit er in Landrus Armen - unter seinen dürstenden Zähnen und Lippen - gestorben war. Aber phantomhaft geisterte noch manches Mal das Wissen durch sein erkaltetes Gehirn, daß es andere Zeiten gegeben hatte; Zeiten, in denen das tote Herz in seiner Brust geschlagen und Blut durch die Adern und Gefäße eines warmen Körpers gepumpt hatte ...
Ohne Rößlins Frage eine Beachtung beizumessen, richtete Eucharius dem untersetzten Mann aus, was der Meister ihm aufgetragen hatte.
Rößlin hörte es sich an, fluchte noch derber und schlug dann mit der Faust auf den Tisch.
»Ich begreife es nicht«, murmelte er nach einer Weile in gemäßigterem Ton. Sein Blick flackerte zu dem Zwilling, versuchte ihn festzuhalten, doch offenbar gelang es ihm nicht, länger als einen Lidschlag auf ihm zu verweilen. Dann zuckte er regelrecht von ihm zurück - irgendwohin. Und wenn er sich erneut bemühte, war ihm auch nicht mehr Erfolg beschieden.
»Ich verstehe es nicht«, wiederholte er. »Wir wollten nach Paris . Wir waren fast dort, aber dann .« Er wischte mit den Händen durch die Papiere. Einige fielen auf den rohen Bretterboden des Wagens. »Hier liegen offizielle Einladungen. Hohe Herren der Stadt wollten uns auf ihren Festen auftreten lassen, der König selbst .« Er hieb erneut mit der Faust auf den Tisch. »Was habe ich getan? Wie konnte ich den Befehl geben, umzukehren ...?«
Eucharius antwortete nicht. Rößlins Verwirrung rührte ihn nicht. Er blickte nach links, auf die Herzseite, die seinem Bruder gehörte. Auch jetzt noch. Hermes' Blick war stur nach vorn gerichtet.
Warum hast du mich verlassen? dachte Eucharius.
Und noch während er darüber nachsann, raste tauber Schmerz durch seinen Schädel, so als würde er für jeden Gedanken, der nichts mit der ihm verbliebenen Aufgabe zu tun hatte, bestraft.
Bestraft von wem? Vom Meister?
Rößlin, immer noch sitzend, gebärdete sich plötzlich wie toll hinter seinem Tisch. Schließlich packte er einen Stein, der ihm als Doku-mentenbeschwerer diente, und schleuderte ihn dem Zwillingsköpfi-gen in seiner Rage entgegen.
»Verschwinde!« kreischte er.
Es hatte weniger mit Treffsicherheit denn mit Zufall zu tun, daß der Stein genau die Stirn von Hermes traf und der Aufprall den Kopf weit nach hinten schmetterte, so daß es ähnlich wie vor Tagen knirschte, als das Genick des Bruders geborsten war. Diesmal war es jedoch eine der hölzernen Schienen, die der Meister zu einem sonderbaren, unter dem hohen Kragen versteckten Korsett geflochten hatte, um Eucharius' totem Bruder Halt zu verleihen.
Nun kippte Hermes' schwerer Kopf wieder seitlich nach hinten weg.
Rößlin mußte es eigentlich gesehen haben, zeigte aber dennoch keine Reaktion, die diesem makabren Vorfall gerecht geworden wäre. Nach einem kurzen Innehalten wandte er sich wieder den behördlichen Schreiben zu.
Eucharius taumelte nach draußen. Es kostete ihn all seine Beherrschung, sich nicht auf den Direktor zu stürzen .
Als er die Tür hinter sich zuschlug, mußte er sich kurz am Geländer festhalten. In einiger Entfernung sah er eine Gestalt hinter einem der anderen Wagen wegtauchen.
Er war sicher, Lydia erkannt zu haben .
Eucharius straffte sich und stieg die drei Stufen
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