Dinner fuer drei Roman
das sie mit Sophies Tochter teilte, und runzelte die Stirn. Chantal sollte längst zu Hause sein. Es war Montagabend, der Park war geschlossen, und es gab nichts zu tun. Für den Fall, dass Mr. Disneys Mitarbeiter den Freizeitpark nicht kauften, war Chantal zentraler Bestandteil von Honeys Ersatzplan, deshalb konnte sie es sich ganz einfach nicht leisten, ihre Cousine auch nur für einen Abend aus den Augen zu lassen.
Honey schwang ihre Füße vom Bett und griff nach den verblichenen roten Shorts, die sie während des Tages getragen hatte. Sie war zartgliedrig, kaum einen Meter fünfzig groß, und die Shorts waren ein Erbstück von Chantal. Sie waren zu weit für ihre schmalen Hüften und hingen an ihr herunter, sodass ihre Beine darin noch dürrer aussahen als gewöhnlich. Doch Eitelkeit war eine der wenigen Schwächen, die Honey nicht hatte, deshalb war ihr auch in diesem Augenblick vollkommen egal, wie sie aussah.
Obgleich Honey selbst sich dessen nicht bewusst war, hätte sie durchaus einigen Grund zur Eitelkeit gehabt. Sie besaß von dichten Wimpern gerahmte, leuchtend blaue Augen unter dunklen, sanft geschwungenen Brauen, ein herzförmiges Gesicht mit feinen Wangenknochen und unzähligen Sommersprossen sowie eine kesse kleine Stupsnase. Nur in ihren Mund mit den betörend vollen Lippen war sie noch nicht hineingewachsen, sodass er sie, wenn sie in einen Spiegel blickte, immer an ein breites Fischmaul denken ließ. So lange sie denken konnte, hatte sie ihr Aussehen gehasst, und das lag nicht nur daran, dass die Leute sie, bis sie endlich kleine Brüste bekommen hatte, irrtümlich für einen Jungen gehalten hatten, sondern weil niemand einen Menschen ernst nahm, der aussah wie ein Kind. Doch da es für Honey außerordentlich wichtig war, ernst genommen zu werden, hatte sie jeden ihrer körperlichen Vorzüge stets hinter einem feindseligen Stirnrunzeln und einem kampflustigen Auftreten versteckt.
Sie schob ihre Füße in ein Paar ausgetretener blauer Gummischlappen und fuhr sich mit den Händen durch das kurze, wirre Haar, wenn auch nicht, um es zu glätten, sondern um an einem Moskitostich auf dem Kopf zu kratzen. Ihr Haar war honigfarben, passend zu ihrem Namen. Eigentlich hätten sich die Strähnen gelockt, doch ehe sie Gelegenheit dazu bekamen, säbelte Honey, wann immer sie das Gefühl hatte, das Haar sei im Weg, es mit einem Taschenmesser, einer Zickzackschere oder notfalls auch mit einem Fischmesser ab.
Sie schlüpfte in den kurzen, schmalen Gang, in dem genau wie im Wohn-Ess-Bereich ein abgenutzter Teppichboden mit braun-goldenen Rauten lag, und zog die Tür des Schlafraums leise hinter sich zu. Wie vorhergesehen, lag Sophie schlafend auf der alten Couch, die mit einem abgewetzten rehbraunen, mit verblichenen Tavernen-Schildern, Weißkopfadlern und Sternenflaggen bedruckten Stoffbezug versehen war. Die Dauerwelle, die Chantal ihrer Mutter hatte angedeihen lassen, war ein wenig misslungen, sodass Sophies dünnes, grau
meliertes Haar trocken aussah und ihr wirr vom Kopf abstand, als sei es elektrisch aufgeladen. Sie war übergewichtig, und ihre Brüste hingen, dem Gesetz der Schwerkraft folgend, wie zwei mit Wasser gefüllte Ballons unter ihrem Stricktop zu beiden Seiten ihres Körpers schlaff auf die Couch hinab.
Honey bedachte ihre Tante mit dem gewohnten halb ärgerlichen, halb liebevollen Blick. Eigentlich sollte sich Sophie Moon Booker Sorgen um ihre Tochter machen und nicht Honey. Sie war diejenige, die überlegen sollte, wie sie die Rechnungen, die täglich ins Haus flatterten, je bezahlen sollten und wie sich die Familie zusammenhalten ließ, ohne in die Fänge der Sozialhilfe zu geraten. Aber Honey wusste, auf Sophie oder ihre Tochter wütend zu werden war vollkommen sinnlos. Sie würden sich nie ändern.
»Ich gehe noch eine Weile raus.«
Als Antwort kam lediglich ein Schnarchen, sodass Honey ungehindert durch die Tür und über die verfallenen Betonstufen hinaus ins Freie sprang. Das schmerzlich grelle Blau der Außenwände ihres Heims wurde lediglich durch die Mattheit des Alters ein wenig gemildert, doch Honey hatte sich an den Anblick bereits vor einer Ewigkeit gewöhnt. Ihre Schlappen versanken im Sand, und kleine Körnchen knirschten zwischen ihren Zehen, als sie ein paar Schritte in die feuchte Nachtluft machte und schnupperte. Die Juninacht war vom Geruch der Pinien, von Kreosot und dem Desinfektionsmittel, mit dem sie die Toiletten reinigten, vor allem jedoch vom Modergestank des
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