Doch die Sünde ist Scharlachrot
die an Weihnachten entstanden war, keine zwei Monate vor ihrem Tod. Es waren hektische Feiertage gewesen, keine Zeit, um ihre oder seine Familie zu besuchen, weil er bis über beide Ohren in Ermittlungen gesteckt hatte. »Mach dir keine Gedanken, es wird weitere Weihnachtsfeste geben, Darling«, hatte sie gesagt. Das Bild zeigte sie am Frühstückstisch; das Kinn auf die Hand gelegt, sah sie ihn lächelnd an, ihr Haar noch ungekämmt, das Gesicht ungeschminkt – so wie er sie liebte.
Helen, dachte er.
Er musste sich zwingen, in die Gegenwart zurückzukehren. Behutsam steckte er das Foto zurück an seinen Platz in der Brieftasche. Diese legte er neben das Telefon auf den Nachttisch. Schweigend saß er da, hörte nichts als sein eigenes Atemgeräusch. Er dachte an ihren Namen. Er dachte an ihr Haar. Er dachte an nichts.
Schließlich nahm er seine Arbeit wieder auf. Er wägte die Alternativen ab. Weitere Nachforschungen über Daidre Trahair würden notwendig sein, aber er wollte nicht derjenige sein, der sie anstellte, ganz gleich ob er einer Kollegin Loyalität schuldete oder nicht. Denn er war doch gar kein Polizist – jedenfalls hier nicht und überhaupt nicht mehr. Und es gab andere.
Doch ehe er sich daran hindern konnte – dabei wäre es so einfach gewesen –, nahm er den Hörer wieder zur Hand und wählte eine Nummer, die ihm vertrauter war als seine eigene. Und eine Stimme, die vertraut war wie die eines Familienmitgliedes, meldete sich am anderen Ende der Leitung: Dorothea Harriman, Abteilungssekretärin bei New Scotland Yard.
Zuerst war er nicht sicher, ob er sprechen konnte, aber schließlich brachte er ein Wort heraus: »Dee.«
Sie erkannte ihn sofort. Mit gesenkter Stimme sagte sie: »Detective Superintendent … Detective Inspector … Sir?«
»Einfach Thomas«, erwiderte er. »Einfach nur Thomas, Dee.«
»Um Himmels willen, Sir, kommt nicht infrage!«, protestierte sie. Dee Harriman, die niemals irgendjemanden anders ansprach als mit seinem vollständigen Rang. »Wie geht es Ihnen, Detective Superintendent Lynley?«
»Es geht mir gut, Dee. Ist Barbara in der Nähe?«
»Detective Sergeant Havers?«, fragte sie. Derart nachzufragen, sah Dee überhaupt nicht ähnlich. Lynley überlegte, warum sie es wohl getan hatte.
»Nein. Sie ist nicht hier, Detective Superintendent. Aber Detective Sergeant Nkata ist im Büro. Und Detective Inspector Stewart. Und Detective Inspec…«
Lynley unterbrach sie: »Ich versuch's auf Barbaras Handy. Und, Dee …?«
»Detective Superintendent?«
»Sagen Sie niemandem, dass ich angerufen habe, in Ordnung?«
»Aber … Sind Sie …«
»Bitte.«
»Ja. Ja. Natürlich. Aber wir hoffen … Nicht nur ich … Ich spreche für alle hier, das weiß ich, wenn ich sage …«
»Danke.« Er legte auf. Er überlegte, ob er Barbara Havers, seine langjährige Partnerin und mitunter streitbare Freundin, wirklich anrufen sollte. Sie würde ihm bereitwillig ihre Hilfe anbieten, aber es wäre allzu bereitwillig. Selbst wenn sie mitten in einem Fall steckte, würde sie ihm trotzdem helfen wollen und die Konsequenzen tragen, ohne ein Wort darüber zu verlieren.
Und noch eine andere Gewissheit war in ihm aufgestiegen, als er Dorothea Harrimans Stimme gehört hatte: Es war offensichtlich noch viel zu früh. Und womöglich war die Wunde zu tief, um überhaupt je zu heilen.
Doch ein Junge war tot, und Lynley war, wer er war. Er griff erneut zum Telefon.
»Ja?« Das war typisch Havers. Sie sprach laut, und wenn er die Hintergrundgeräusche richtig deutete, steckte sie mit der Höllenmaschine, die sie ihr Auto nannte, irgendwo im Straßenverkehr.
Er atmete ein, immer noch unsicher.
»Hey«, blaffte sie. »Ist da jemand? Ich kann Sie nicht hören. Hören Sie mich?«
»Ja. Ich kann Sie hören. Ich bin da an etwas dran … Können Sie mir helfen, Barbara?«
Ein langes Schweigen. Er hörte ihr Radio und den vorüberrauschenden Verkehr. Offenbar war sie so klug gewesen, auf dem Seitenstreifen zu halten, um zu telefonieren. Aber sie sagte immer noch nichts.
»Barbara?«
»Schießen Sie los, Sir.«
LiquidEarth befand sich am Binner Down inmitten einer Ansammlung kleiner Betriebe auf dem Gelände eines vor langer Zeit stillgelegten Air-Force-Flugplatzes – ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg, das nach all den Jahrzehnten nur noch aus verfallenen Gebäuden, tief gefurchten Wegen und Dornengestrüpp bestand. Es wirkte wie eine Müllkippe. Zerbrochene Hummerfallen und
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