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Doch die Sünde ist Scharlachrot

Doch die Sünde ist Scharlachrot

Titel: Doch die Sünde ist Scharlachrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Elizabeth
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1
    Er fand die Leiche am dreiundvierzigsten Tag seiner Wanderung. Der April neigte sich bereits dem Ende zu, auch wenn der Mann sich dessen kaum bewusst war. Wäre er in der Lage gewesen, seine Umgebung wahrzunehmen, hätte die Flora entlang der Küste ihm einen unschwer zu deutenden Hinweis auf die Jahreszeit gegeben. Bei seinem Aufbruch war das einzige Anzeichen wiedererwachenden Lebens der gelbe Schleier der Ginsterknospen gewesen, die sporadisch oben auf den Klippen sprossen. Inzwischen hatte sich dort ein wahres Farbenmeer ausgebreitet, und hier und da rankte Angelika um die geraden Stämme der Hecken. Nicht mehr lange, und auch der Fingerhut würde die Straßenränder säumen und Breitwegerich seine feurigen Köpfe aus den Bruchsteinmauern recken, die in diesem Teil der Welt die Felder begrenzten. Doch so weit war es noch nicht, und all diese Tage, die sich zu Wochen aufgereiht hatten, war er in dem Bemühen gewandert, nicht vorauszublicken, geschweige denn an die Vergangenheit zu denken.
    Er trug praktisch nichts bei sich, lediglich einen uralten Schlafsack, einen Rucksack mit ein wenig Proviant, den er aufstockte, wenn er gerade einmal daran dachte, und eine Flasche, die er morgens mit Wasser füllte, falls in der Nähe seines Schlafplatzes welches zu finden war. Alles Übrige trug er am Leib: eine wetterfeste Jacke, eine Kappe, ein kariertes Hemd, eine Hose. Stiefel, Socken, Unterwäsche. Er war völlig unvorbereitet zu dieser Wanderung aufgebrochen, und das war ihm gleichgültig gewesen. Er hatte nur eines gewusst: Er konnte lediglich auf Wanderschaft gehen oder aber zu Hause bleiben und schlafen, und wäre er zu Hause geblieben, hatte er erkannt, dann hätte er irgendwann nicht mehr den Willen aufgebracht, wieder aufzuwachen.
    Also wanderte er. Er hatte keine Alternative gesehen. Er hatte die steilen Aufstiege zu den Klippen bewältigt, während der Wind und die scharfe, salzige Luft ihm ins Gesicht peitschten. Dann wieder war er über Strände gelaufen, wo bei Ebbe Felsen aus dem nassen Sand ragten. Er war außer Atem geraten, der Regen hatte seine Hosenbeine durchweicht, spitze Steine hatten sich in seine Schuhsohlen gebohrt, und all dies hatte ihn daran gemahnt, dass er lebte und weiterleben sollte.
    So hatte er also mit dem Schicksal eine Wette abgeschlossen. Falls er die Wanderung überlebte, dann sollte es wohl so sein. Falls nicht, lag sein Ende in der Hand der Götter. Ja: Götter, entschied er. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es da draußen nur ein einziges übergeordnetes Wesen geben sollte, das auf eine göttliche Tastatur einhämmerte, hier etwas einfügte oder dort etwas für immer löschte.
    Seine Familie hatte ihn gebeten, nicht zu gehen. Sie hatten gesehen, in welchem Zustand er sich befand. Doch wie in so vielen Familien seines Standes hatte dies niemand offen ausgesprochen. Seine Mutter hatte lediglich gesagt: »Bitte, tu es nicht, Liebling.« Und sein Bruder hatte ihn gebeten: »Lass mich mitkommen«, das Gesicht bleich, und wie immer hing die Drohung eines neuerlichen Rückfalls über ihm und über ihnen allen. Seine Schwester hatte den Arm um ihn gelegt und gemurmelt: »Irgendwann kommt man darüber hinweg, du wirst sehen.« Aber keiner von ihnen hatte ihren Namen ausgesprochen oder das Wort, das schreckliche, definitive, endgültige Wort.
    Und er selbst sprach es ebenso wenig aus. Er hatte überhaupt nichts gesagt, nur dass er auf Wanderschaft gehen müsse.
    Der dreiundvierzigste Tag war genauso verlaufen wie die zweiundvierzig zuvor. Er war an der Stelle aufgewacht, wo er sich am Vorabend hatte hinfallen lassen – ohne die geringste Ahnung, wo er sich befand. Er wusste nur, dass er dem Küstenwanderweg folgte. Er hatte sich aus dem Schlafsack geschält, Jacke und Stiefel angezogen, den Rest seines Wassers getrunken und war wieder losgelaufen. Das Wetter, das schon den ganzen Tag über launisch gewesen war, verschlechterte sich am frühen Nachmittag. Blauschwarze Wolken jagten über den Himmel. Immer höher türmte der Wind sie auf, zog sie zu einem Sturm zusammen. Es schien, als hielte ein riesiger Schild sie davon ab, sich zu zerstreuen.
    Gegen den Wind kämpfte er sich die Klippe hinauf. Unter ihm lag die schmale Bucht, wo er vielleicht eine Stunde gerastet und die Wellen betrachtet hatte, die mit ungeheuerlicher Wucht gegen die steil aufragenden Schieferfelsen brandeten. Dann hatte die Flut eingesetzt, und er hatte zugesehen, dass er wieder nach oben kam, um

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