Doctor Sleep (German Edition)
Fragen bezüglich einer gewissen Auseinandersetzung in einer Kneipe zu beantworten. Alles in allem kam es ihm sicherer vor wegzubleiben.
Im Stadtzentrum gab es ein Obdachlosenasyl namens Haus der Hoffnung (das die Penner natürlich Haus der Hoffnungslosen nannten), doch auch da wollte Dan nicht hin. Dort konnte man zwar kostenlos übernachten, aber wenn man eine Flasche dabeihatte, bekam man die abgenommen. Wilmington war voller billiger Absteigen und Motels, wo sich niemand einen Scheißdreck darum scherte, was man trank, schnupfte oder sich spritzte, aber wieso sollte er sein gutes Geld für ein Dach über dem Kopf statt für Schnaps ausgeben, wenn es draußen warm und trocken war? Sich um ein Obdach Sorgen machen konnte er, wenn er nach Norden fuhr. Außerdem war da noch die Frage, wie er seine paar Habseligkeiten aus seinem Zimmer in der Birney Street holen konnte, ohne dass die Vermieterin etwas davon mitbekam.
Über dem Fluss ging der Mond auf. Die Decke hatte Dan schon hinter sich ausgebreitet. Bald würde er sich drau fl egen, sich damit wie in einen Kokon einwickeln und einschlafen. Er schwebte so weit in den Wolken, dass er glücklich war. Der Start und der Steigflug waren holprig gewesen, aber nun hatte er die ganzen Turbulenzen hinter sich gelassen. Wahrscheinlich führte er kein Leben, das ein guter amerikanischer Bürger als vorbildlich bezeichnet hätte, aber vorläufig war alles in bester Ordnung. Er hatte eine Flasche Old Sun (erworben in einem Schnapsladen, der sich in einer vernünftigen Entfernung vom Golden’s Discount befand) und für morgen zum Frühstück ein halbes belegtes Baguette. Die Zukunft war umwölkt, doch heute schien der Mond hell. Alles war, wie es sein sollte.
(Zucka)
Plötzlich war der Junge bei ihm. Tommy. Direkt neben ihm. Er griff nach dem Koks. Blutergüsse am Arm. Blaue Augen.
(Zucka)
Das sah er mit einer quälenden Klarheit, die nichts mit dem Shining zu tun hatte. Und noch mehr. Deenie, die schnarchend auf dem Rücken lag. Das Portemonnaie aus rotem Kunstleder. Das Bündel Lebensmittelmarken mit dem Aufdruck des Landwirtschaftsministeriums. Das Geld. Die siebzig Dollar. Die er eingesteckt hatte.
Denk an den Mond. Denk daran, wie ruhig und heiter der über dem Wasser aufgeht.
Eine Weile gelang ihm das, aber dann sah er wieder Deenie auf dem Rücken liegen, das rote Portemonnaie aus Kunstleder, das Bündel Lebensmittelmarken, die erbärmlich zerknüllten Geldscheine (die er inzwischen großteils wieder los war). Am deutlichsten aber sah er den Jungen, der mit einer Hand, die wie ein Seestern aussah, nach dem Koks griff. Blaue Augen. Blutergüsse am Arm.
Zucka, sagte er.
Mama, sagte er.
Dan hatte sich das Kunststück beigebracht, seinen Schnaps so aufzuteilen, dass das Zeug länger reichte, der Rausch sanfter war und sich die eher schwachen Kopfschmerzen am nächsten Tag beherrschen ließen. Manchmal klappte das allerdings nicht so gut, und irgendein Mist passierte. Wie im Milky Way. Das war mehr oder weniger ein Unfall gewesen, aber heute Abend war alles im grünen Bereich. Er leerte die Flasche mit vier langen Zügen. Seine Gedanken waren eine leere Schultafel. Der Schnaps war ein Schwamm.
Er legte sich hin und wickelte sich in die gestohlene Decke. Dann wartete er auf die Bewusstlosigkeit, die auch kam, doch zuerst kam Tommy. Mit seinem Atlanta-Braves-T-Shirt. Seiner herunterhängenden Windel. Den blauen Augen, dem malträtierten Arm, der Seesternhand.
Zucka. Mama.
Darüber werde ich niemals sprechen, sagte er sich. Mit niemand.
Während der Mond über Wilmington, North Carolina, aufging, versank Dan Torrance in Bewusstlosigkeit. Er träumte vom Hotel Overlook, aber beim Aufwachen würde er sich nicht daran erinnern. Woran er sich beim Aufwachen erinnerte, waren die blauen Augen, der malträtierte Arm, die nach dem Koks greifende Hand.
Es gelang ihm, seinen Kram zu holen, dann fuhr er nach Norden, zuerst ins Hinterland von New York State und von dort weiter nach Massachusetts. Zwei Jahre vergingen. Manchmal half er Leuten, vor allem alten Leuten. Er hatte ein Talent dafür. In zu vielen besoffenen Nächten war der Junge das Letzte, woran er dachte, und das Erste, was ihm an dem verkaterten Morgen danach in den Sinn kam. Es war der Junge, an den er immer dachte, wenn er sich sagte, er werde mit dem Saufen aufhören. Vielleicht schon nächste Woche, auf jeden Fall nächsten Monat. Der Junge. Die Augen. Der Arm. Die ausgestreckte
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