Dogma
Abertausende Menschenleben ausgelöscht in einem Blutrausch, wie man ihn nicht mehr gesehen hatte, seit beim Ersten Kreuzzug Jerusalem eingenommen worden war. Kaufleute aus Venedig, Genua und Pisa mit ihren Familien, die seit langem in Konstantinopel ansässig waren und in deren Händen der Seehandel und die Geldwirtschaft der Stadt lagen, die gesamte römisch-katholische Bevölkerung der Stadt – abgeschlachtet von den Einheimischen in einem plötzlichen Ausbruch von Zorn und Missgunst. Ihre Häuser waren in Brand gesteckt worden, ihre Gräber geschändet, die Überlebenden als Sklaven an die Türken verkauft. Den katholischen Geistlichen der Stadt war es nicht besser ergangen: Ihre griechisch-orthodoxen Feinde brannten ihre Kirchen nieder, der Repräsentant des Papstes wurde öffentlich enthauptet und sein Kopf einem Hund an den Schwanz gebunden, damit er ihn vor den Augen der johlenden Menge durch die blutbesudelten Straßen der Stadt schleifte.
Der alte Mann wandte sich um und führte die Ritter durch den Lagerraum zu einer Tür, die zum Teil hinter ein paar schwerbeladenen Regalen verborgen war. «Die Franken und die Latiner sprechen davon, Jerusalem zurückzuerobern, aber Euch und mir ist klar, dass es ihnen niemals gelingen wird», sagte er, während er sich an den Schlössern zu schaffen machte. «Ohnehin geht es ihnen nicht wirklich darum, die Grabeskirche wieder in Besitz zu nehmen. Nicht mehr. Das Einzige, woran ihnen jetzt noch liegt, ist, sich selbst zu bereichern. Und der Papst sähe nichts lieber, als dass dieses Reich fällt und die Kirche wieder der alleinigen Herrschaft Roms unterstellt wird.» Er drehte sich um, und sein Gesicht verdüsterte sich. «Man hat von jeher gesagt, allein die Engel im Himmel wüssten, wann unsere großartige Stadt fallen wird. Ich fürchte, jetzt sind es nicht mehr nur die Engel, die es wissen. Die Männer des Papstes werden Konstantinopel einnehmen», sagte er zu den Rittern. «Und wenn es so weit ist, zweifle ich nicht daran, dass ein kleiner Trupp von ihnen nur ein Ziel haben wird: dies hier in Besitz zu nehmen.»
Damit öffnete er die Tür und führte sie hinein. Der Raum war leer bis auf drei große hölzerne Truhen.
Everards Herz schlug schneller. Als einer der wenigen in den höchsten Rängen des Ordens wusste er, was diese schlichten, schmucklosen Kisten enthielten. Und er wusste auch, was er jetzt zu tun hatte.
«Ihr werdet den Wagen mit den Pferden brauchen. Theophilus wird Euch noch einmal helfen», fuhr der alte Mann mit einem Blick zu dem jüngsten der drei Hüter fort, dem, der Everard und seine Männer in die Stadt geführt hatte. «Aber wir müssen uns beeilen. Die Lage kann jederzeit umschlagen. Man munkelt sogar, der Kaiser wolle aus der Stadt fliehen. Ihr müsst bei Tagesanbruch aufbrechen.»
«‹Ihr› …?», wiederholte Everard überrascht. «Was ist mit Euch? Ihr kommt doch mit uns?»
Der Ältere wechselte einen bekümmerten Blick mit seinen Gefährten, dann schüttelte er den Kopf. «Nein. Wir müssen dafür sorgen, dass man Eure Spur nicht findet. Die Männer des Papstes sollen ruhig denken, das, worauf sie aus sind, befände sich noch in der Stadt – so lange, bis Ihr außer Gefahr seid.»
Everard wollte etwas einwenden, aber er sah den Hütern an, dass es sinnlos wäre, sie umstimmen zu wollen. Ihnen war immer klar gewesen, dass es einmal eine Zeit wie diese geben könnte. Sie waren darauf vorbereitet worden, so wie alle Generationen von Hütern vor ihnen.
Sie luden die Truhen einzeln auf den Wagen. Vier Ritter trugen jeweils gemeinsam die schwere Last, während die beiden übrigen Wache standen. Als sie aufbrachen, zeigten sich am Nachthimmel gerade die ersten Vorboten der Morgendämmerung.
Das Pege-Tor, das die Hüter ausgewählt hatten, war als einer der wenigen Zugänge zur Stadt in Benutzung. Es wurde von zwei Türmen flankiert, an der Seite gab es jedoch noch eine Nebenpforte. Durch diese würden sie hinausgelangen.
Als das schwerbeladene Pferdefuhrwerk mit den zwei verhüllten Gestalten auf der Kutschbank darauf zurumpelte, verstellten ihm drei Fußsoldaten den Weg.
Misstrauisch gebot ihnen einer mit erhobener Hand anzuhalten und fragte: «Wer da?»
Theophilus, der die Zügel hielt, hustete gequält, ehe er leise eine Antwort murmelte. Sie müssten dringend zum Kloster Zoodochos, gleich vor den Stadttoren gelegen. Everard, der neben ihm saß, sah schweigend zu, wie die Worte des Hüters ihre Wirkung taten. Der Wachmann
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