Dogma
Ihr getan?», fragte er, doch die Worte drohten ihm in der Kehle steckenzubleiben. «Was habt Ihr mir gegeben?»
Er wollte sich auf den Abt stürzen, aber noch ehe er einen Schritt tun konnte, fiel er auf die Knie. Er stemmte den Oberkörper hoch und versuchte angestrengt, sich zu besinnen, zu begreifen, was geschehen war. Man musste ihnen allen am Abend zuvor ein Schlafmittel gegeben haben. Das Anisgetränk – bestimmt war es das gewesen. Ein Schlafmittel, damit die Mönche ungestört die Truhen durchsuchen konnten. Und dann, am Morgen – das Wasser. Es war vergiftet, begriff Everard und krümmte sich unter Krämpfen. Der Schmerz war so stark, dass ihm übel wurde. Sein Gesichtsfeld verengte sich, seine Hände zitterten unkontrollierbar. Es fühlte sich an, als stünden seine Eingeweide in Flammen.
«Was habt Ihr getan?», stieß der Templer noch einmal tonlos hervor, kaum noch verständlich, die Zunge bleischwer in seinem ausgedörrten Mund.
Pater Philippicus trat vor, blieb vor dem am Boden liegenden Ritter stehen und blickte auf ihn herab, einen Ausdruck finsterer Entschlossenheit auf dem Gesicht. «Den Willen des Herrn», antwortete er schlicht. Dann hob er die Hand und bewegte sie langsam erst von oben nach unten, dann von links nach rechts. Mit kraftlosen Fingern schlug er das Kreuz in die flimmernde Luft zwischen ihnen.
Es war das Letzte, was Everard von Tyros sah.
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Kapitel Eins
Istanbul – heute
«Salam, Professor. Aja vaught darid ke ba man sohbat bo konid?»
Behrouz Sharafi blieb stehen und drehte sich überrascht um. Der Fremde, der ihm zugerufen hatte, war ein gutaussehender, eleganter Mann, dunkler Typ, Mitte bis Ende dreißig, groß und schlank, das schwarze Haar mit Gel zurückgekämmt. Er trug einen anthrazitgrauen Rollkragenpullover unter dem dunklen Anzug und lehnte an einem geparkten Wagen. Ein kleiner Wink mit der zusammengefalteten Zeitung, die der Mann in der Hand hielt, bestätigte den fragenden Blick des Professors. Sharafi rückte seine Brille zurecht und musterte den Mann. Er war sich ziemlich sicher, ihm noch nie begegnet zu sein, aber der Fremde war offenbar Iraner wie er selbst, denn er sprach akzentfrei Persisch. Das war eine Überraschung. Sharafi war seit seiner Ankunft in Istanbul vor mehr als einem Jahr nicht vielen Iranern begegnet.
Der Professor zögerte, dann gab er dem einladenden und erwartungsvollen Blick des Fremden nach und ging ein paar Schritte auf ihn zu. Es war ein milder Spätnachmittag, und auf dem Platz vor der Universität ließ die rege Betriebsamkeit des Tages allmählich nach.
«Entschuldigung, sind wir –»
«Nein, wir sind uns noch nicht begegnet», bestätigte der Fremde und manövrierte den Professor mit behutsamer Geste zur Beifahrertür des Wagens, die er ihm soeben geöffnet hatte.
Von plötzlichem Unbehagen erfasst, hielt Sharafi inne. Bis jetzt hatte er seinen Aufenthalt in Istanbul als befreiend empfunden. Die Anspannung, ständig auf der Hut sein zu müssen, aufpassen zu müssen, was er – als Sufi und Professor der Universität von Teheran – sagte, hatte mit jedem Tag nachgelassen. Weit entfernt von den politischen Unruhen, die die wissenschaftliche Tätigkeit im Iran einschränkten, hatte der siebenundvierzigjährige Historiker sein neues Leben in diesem weniger isolierten und weniger gefährlichen Land genossen, ein Land, das immerhin den Beitritt zur Europäischen Union anstrebte. Ein Fremder im dunklen Anzug, der ihn einlud, in sein Auto zu steigen, hatte dieses kleine Luftschloss in einem Augenblick ins Wanken gebracht.
Der Professor hob die geöffneten Hände. «Entschuldigen Sie, ich weiß gar nicht, wer Sie sind, und es –»
Wieder unterbrach ihn der Fremde in dem gleichen zuvorkommend-höflichen Ton. «Bitte, Professor. Ich muss mich entschuldigen, dass ich so unvermittelt an Sie herantrete, aber ich muss mit Ihnen sprechen. Es geht um Ihre Frau und Ihre Tochter. Sie sind womöglich in Gefahr.»
Sharafi war zwischen Angst und Verärgerung hin- und hergerissen. «Meine Frau und – was ist mit ihnen? Wovon sprechen Sie?»
«Bitte», wiederholte der Mann, der in keiner Weise beunruhigt klang. «Es wird alles gut. Aber wir müssen wirklich dringend miteinander reden.»
Sharafi sah sich hastig um, ohne selbst recht zu wissen, wonach. Abgesehen von dem zutiefst beunruhigenden Wortwechsel, in den er gerade verwickelt war, schien alles normal. Eine Normalität, die – das war ihm klar – von
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