Dogma
ebendieser Irre hatte Tess als Geisel genommen, um Reilly zu erpressen. Reilly hasste es, nur reagieren zu können, statt selbst die Initiative zu ergreifen, auch wenn er als leitender Special Agent der New Yorker FBI -Einheit zur Terrorismusbekämpfung über reichlich Ausbildung und Erfahrung im Umgang mit Krisensituationen verfügte.
Das Problem war nur, dass diese Krisensituationen im Allgemeinen nicht Menschen betrafen, die er liebte.
Ein junger Priester in schwarzer Soutane, der schwitzend in der Mittagshitze zwischen den Säulen vor dem Gebäude stand, empfing die Besucher und führte sie hinein. Während sie durch die kühlen, steingefliesten Korridore zu der großen Marmortreppe gingen, befielen Reilly unbehagliche Erinnerungen an seinen früheren Besuch auf diesem geheiligten Boden, drei Jahre zuvor, und an das, was er hier erfahren hatte und seither nicht mehr vergessen konnte. Noch stärker wurden die Erinnerungen, als der Priester zwei gewaltige, mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Türflügel aufstieß, hinter denen Kardinal Mauro Brugnone, der Außenminister des Vatikans, die beiden Besucher erwartete. Der breitschultrige Mann, dessen Statur eher zu einem kalabrischen Bauern gepasst hätte als zu einem Geistlichen – nach dem Papst der zweite Mann im Vatikan –, war Reillys Kontaktperson im Vatikan. Und wie es schien, hatte er etwas mit dem Grund für Tess’ Entführung zu tun.
Der Kardinal kam ihm entgegen und begrüßte ihn mit offenen Armen. Obwohl er bereits auf die siebzig zuging, war er noch immer so kräftig und energisch, wie Reilly ihn in Erinnerung hatte.
«Es ist mir eine Freude, Sie wiederzusehen, Agent Reilly», sagte er, einen halb freudigen, halb wehmütigen Ausdruck auf dem Gesicht. «Auch wenn ich wünschte, es wären erfreulichere Umstände.»
Reilly stellte seine Reisetasche ab, die er in aller Hast gepackt hatte, und schüttelte dem Kardinal die Hand. «Ja, das wünschte ich auch, Eminenz. Danke, dass Sie uns so kurzfristig empfangen.»
Reilly stellte den iranischen Professor vor, der Kardinal seinerseits die beiden anderen Männer im Raum: Monsignore Francesco Bescondi, den Präfekten der vatikanischen Geheimarchive, ein schmächtiger Mann mit schütterem blondem Haar und einem kurzgetrimmten Kinnbart, und Gianni Delpiero, den Generalinspektor des Corpo della Gendarmeria, der Polizei des Vatikans. Delpiero war größer und kräftiger als Bescondi, mit dichtem schwarzem Haar und markanten Zügen. Reilly versuchte, sein Unbehagen darüber zu verbergen, dass der Polizeichef des Vatikans bei dem Gespräch zugegen war. Mit einem angedeuteten höflichen Lächeln gab er dem Mann die Hand und sagte sich insgeheim, dass er damit hätte rechnen müssen, wenn man bedachte, für welche Behörde er arbeitete und wie dringlich er um eine Audienz gebeten hatte.
«Nun, was können wir für Sie tun, Agent Reilly?», fragte der Kardinal und bedeutete den Besuchern mit einer Geste, auf den Polstersesseln am Kamin Platz zu nehmen. «Sie sagten am Telefon, Sie wollten es mir lieber persönlich erklären.»
Reilly hatte nicht viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie er die Sache anpacken sollte. Klar war nur: Er konnte diesen Männern nicht die ganze Wahrheit erzählen. Nicht, wenn er wollte, dass sie seine Bitte gewährten.
«Vorab muss ich betonen, dass ich nicht in einer dienstlichen Angelegenheit hier bin, ich meine, nicht als Vertreter des FBI . Es geht um eine persönliche Bitte. Wenn Sie gestatten.» Nach dem Anruf von Tess hatte er sich ein paar Tage freigenommen. Niemand an der Federal Plaza wusste, dass er in Rom war, weder Aparo, sein Partner, noch ihr Vorgesetzter Jansson. Reilly beschlich die Ahnung, das könnte ein Fehler gewesen sein, aber die Entscheidung war nun einmal getroffen.
Brugnone winkte ab. «Was können wir für
Sie
tun, Agent Reilly?», wiederholte er mit Betonung.
Reilly nickte dankend. «Ich befinde mich in einer heiklen Lage», begann er. «Ich brauche Ihre Hilfe, daran führt kein Weg vorbei. Aber ich muss Sie auch bitten, nicht mehr Informationen von mir zu verlangen, als ich Ihnen im Augenblick geben kann. Ich kann nur so viel sagen: Es stehen Menschenleben auf dem Spiel.»
Brugnone wechselte einen beunruhigten Blick mit seinen Kollegen. «Sagen Sie uns, was Sie brauchen.»
«Professor Sharafi benötigt Informationen. Informationen, von denen er glaubt, dass er sie nur in Ihren Archiven finden kann.»
Der Iraner rückte seine Brille zurecht und
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