Doktor Proktor verhindert den Weltuntergang
dass es nicht nur sie betraf, sondern auch noch andere. Truls und Trym. Und Beatrize. Ja, wenn sie es sich genau überlegte, betraf es fast alle Menschen in ihrer Umgebung. Und bei dem Gedanken stellten sich nicht nur ihre Nackenhaare auf, sondern auch noch die fast unsichtbaren Härchen auf ihren Unterarmen.
6. Kapitel
Storchschlucker, Schaufelratten und Mondsterameisen
Erinnerst du dich, dass Doktor Proktor gestern was von ›Sockenklauern‹ und ›Sprachfehlern‹ gesagt hat?«, fragte Lise in der Pause.
Sie und Bulle standen auf einem Schneehügel auf dem Schulhof und schauten auf die anderen herunter, die sich über Hallvard Tenoresen und die Fanni Voisis unterhielten. »Und gestern hat Papa Ljiebe statt Liebe gesagt. Und Mama hat Kjühlschrank gesagt. Das sind doch Sprachfehler, oder?«
»Das kann auch ein Zufall gewesen sein«, sagte Bulle. »Vielleicht war das einfach nicht ihr Tag.«
»Aber denk doch mal nach«, sagte Lise. »Ist dir nicht aufgefallen, dass in den letzten Tagen alle immer irgendwie Js einbauen?«
Bulle dachte nach.
»Jetzt, wo du es sagst«, meinte er. »Meine Mutter hat mich heute Morgen darum gebeten, den Kjaffeekjessel aufzusetzen. Und meine Schwester hat misch gesagt statt mich.«
»Aber das ist doch etwas ganz anderes.«
»Meine Schwester ist ja auch nicht normal.«
»Und noch etwas«, sagte Lise. »Weißt du, was sie gestern in den Nachrichten gesagt haben?«
»Dass die Frauen bei einer weltweiten Abstimmung Bulle zum Mann des Jahres gewählt haben?«
»Nein, dass die Menschen mehr Socken als sonst verlieren.«
»Uih«, sagte Bulle. »Sockenklauer, glaubst du …?«
»Ich glaube, dass da draußen etwas passiert, Bulle. Und ich glaube, dass Doktor Proktor etwas weiß, was er uns nicht erzählen will.«
»Hör auf, mir Angst zu machen, Lise.«
»Ich spüre das, Bulle! Das hat etwas mit dem fehlenden L auf der Schulorchesterfahne zu tun und mit den nassen Sockenspuren. Was sollten wir tun?«
»Wir sollten das wohl einem Erwachsenen sagen.«
»Aber die Erwachsenen sagen doch gerade Kjino und Kjind und so weiter. Können wir denen überhaupt vertrauen?«
Bulle kratzte sich am Kjinn, Entschuldigung, am Kinn.
»Doktor Proktor«, sagte Bulle. »Der sagt immer noch Kühlschrank.«
»Und weicht uns aus, wenn wir ihn etwas fragen«, seufzte Lise. »Bulle, wir müssen selbst herausfinden, was hier im Busch ist. Auf jeden Fall hat das irgendwas mit dem Wesen zu tun, das du gesehen hast.«
»Hm«, sagte Bulle. »Wenn es so ist, müssen wir wohl ein paar Nachforschungen anstellen. Und wenn es um seltsame Wesen geht, weiß ich auch schon, wo wir mit der Suche anfangen: im T. D. D. N. B. M.«
Lise nickte. T. D. D. N. B. M. »TIERE, DENEN DU NIE BEGEGNEN MÖCHTEST«, so lautete der Titel des Buches, das sie noch nie gesehen hatte, von dem Bulle aber behauptete, es habe mehr als sechshundert Seiten und stamme größtenteils aus der Feder seines Großvaters.
Nach der Schule liefen Bulle und Lise durch die Kanonenstraße.
»Ich habe das Buch in meinem Zimmer«, sagte Bulle und drehte sich um, als Lise draußen auf der Treppe stehen blieb. Ihr war mit einem Mal bewusst geworden, dass sie noch nie bei Bulle zu Hause gewesen war, obwohl sie nebeneinanderwohnten.
»Komm schon«, flüsterte Bulle.
Zögernd folgte sie ihm in den Flur. Bestimmt flüsterte Bulle, weil er eigentlich keinen Besuch mitbringen durfte, dachte Lise. Sie hatte nie danach gefragt, war aber fest davon überzeugt, dass es so war. Vermutlich hatte sie deshalb nie danach gefragt. Aber sie hatte auch nie in Bulles Haus gewollt. Bulles Mutter und Schwester waren nämlich wirklich überdurchschnittlich unangenehm. Lise sah sich um und sog den Geruch ein. Alle Häuser rochen irgendwie speziell, abgesehen von ihrem eigenen, natürlich. Aber so ging es wohl allen, dachte sie, man riecht einfach nicht, wie es bei einem selbst riecht. Und zu Hause bei Bulle roch es … tja, wonach roch es eigentlich? Waren das Zigaretten und Parfüm? Es roch auf jeden Fall nicht so, wie Bulle roch, er hatte eigentlich überhaupt keinen Geruch, allenfalls ein bisschen nach Bulle.
Sie zog ihre Stiefel aus und schlich hinter Bulle her. Durch den Türspalt sah sie einen Ausschnitt vom Wohnzimmer: ein Fernseher und ein Sofa, über dem ein großes Foto von Bulles Mutter und Schwester hing. Sie hastete hinter Bulle her die Treppe nach oben und in sein Zimmer. Die Wände waren hellblau und mit Bildern aller Superhelden geschmückt, die sie
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