Doktor Proktor verhindert den Weltuntergang
kannte, plus ein paar, deren Bekanntschaft sie noch nicht gemacht hatte. Unter der Zimmerdecke hing das Modell eines Segelflugzeugs. Bulle lag bereits auf dem Bett und blätterte in einem Buch mit einem braunen, speckigen Lederumschlag, das fast genauso groß war wie er.
Lise legte sich neben ihn.
»Schauen wir mal nach«, sagte Bulle. »Sockenklauer.«
Er blätterte an den Tieren mit M und N und O vorbei und Lise sah Beschreibungen und Zeichnungen von Tieren vorbeiflimmern, denen sie defintiv nie begegnen wollte. Wobei sie sich nicht wirklich sicher war, ob es diese Tiere tatsächlich gab. Wenn tatsächlich Bulles Großvater dieses Buch geschrieben hatte, war nicht auszuschließen, dass er seinem Enkel ein wenig glich und es mit der Wahrheit nicht allzu genau genommen hatte, wenn sie ihm nicht lustig genug erschienen war. Allmählich kamen sie zum S. Storchschlucker , ein backsteinhausähnliches Tier mit einem Maul wie ein Schornstein, das allem Anschein nach Storche anlocken sollte.
»Hier steht nichts von Sockenklauern«, sagte Bulle. »Schauen wir doch mal unter Sprachfehler nach.«
Aber auch da stand nichts.
»Hm«, sagte Bulle. »Das ist ja ein bisschen enttäuschend.« Dann erhellte sich sein Gesicht. »Andererseits, wenn dieses Wesen kein Tier ist, dem man besser nie begegnen möchte, kann es ja nicht so gefährlich sein.« Er wollte das Buch bereits wieder zuschlagen.
»Warte«, sagte Lise. »Doktor Proktor hat doch noch etwas gesagt. Er hat nicht das ganze Wort ausgesprochen, aber es begann mit ›Mond‹ …« Sie dachte so fest nach, dass ihre Haare sich lockten. »Mondka! Er hat Mondka gesagt.«
Bulle blätterte. »Hier steht was von MÖWENRATTEN«, sagte er. »Und MONDSTERAMEISEN. Aber nichts von einem MONDKA.«
»Guck doch mal da«, sagte Lise und deutete auf den Artikel zwischen Möwenratten und Mondsterameisen.
Bulle buchstabierte sich durch das lange Wort: »M-o-n-d-c-h-a-m-ä-l-e-o-n.«
Lise las laut vor und spürte, wie sich ihre gelockten Haare glätteten: »Kameleonus Lunaris. Lebensraum: Mond (und hoffentlich nur dort). Nahrung: Alles, was Fleisch auf den Knochen hat, gerne Menschen. Und am liebsten in Waffelform. Trinkt: Blut und frisch gebrühten Tee. Aussehen: Leider gibt es keine Beschreibungen, Bilder oder Illustrationen dieses grässlichen Wesens. Wer immer ein Mondchamäleon gesehen hat, konnte vermutlich nicht mehr darüber berichten. Es soll aber Menschen geben, die Mondchamäleons gehört haben, sie scheinen bei ihrer Fortbewegung einen weichen, wischenden Laut von sich zu geben, wie Socken auf Holzdielen …«
»Psst!«, platzte Bulle heraus.
Sie lauschten. Und hörten etwas. Draußen näherte sich etwas der Tür. Ein weicher, wischender Laut …
»Unter das Bett!«, flüsterte Bulle.
Lise war so schnell, wie sie nur konnte, und als sie unter das Bett schlüpfte, hörte sie, wie die Tür aufgerissen wurde und eine Stimme keifte: »Ich habe Hunger!«
»Ich mache nur erst noch meine Hausaufgaben, dann koche ich das Essen.«
»Hausaufgaben?«, zischte die Stimme. »Du weißt doch, wie es Menschen ergeht, die zu viele Hausaufgaben machen? Sie kriegen immer nur noch mehr auf!«
»Ich komme gleich, Mama. Leg dich wieder hin.«
»Und schneid heute mal gründlich die Augen aus den Kartoffeln, sonst kannst du deine Geburtstagsparty vergessen.«
»Ich durfte doch noch nie eine Geburtstagsparty feiern.«
»Whatever.«
Die Tür fiel knallend ins Schloss.
Lise wartete lange, bis sie wirklich sicher war, dass das Muttermonster nicht noch einmal zurückkam. Dann kroch sie unter dem Bett hervor. Bulle lag auf dem Bett, die Himmelfahrtsnase noch immer im Buch vergraben, »Und?«, fragte sie.
»Es sieht nicht gut aus«, sagte Bulle, ohne den Blick von den Seiten zu nehmen. Er sah düster aus, düsterer, als Lise ihn jemals gesehen hatte, düsterer als ein Friedhof, nein, als zwei.
»Ich habe es gehört«, sagte Lise. »Keine Geburtstagsparty.«
»Ich rede nicht von Geburtstags party« , sagte Bulle und zeigte ins Buch. »Die Frage ist, ob überhaupt noch jemand Geburtstag feiern wird. Oder Weihnachten, zum Beispiel.«
»K… Kein Weihnachten?«, wiederholte Lise und hörte das leise Zittern in ihrer Stimme. Denn auch wenn Bulle gerne Witze machte und Unsinn redete, mit Weihnachten würde er niemals spaßen. Das ginge zu weit.
»W… wie meinst du das?«
»Ich meine, dass uns der Untergang der Welt bevorsteht«, sagte Bulle.
7. Kapitel
Der Untergang der Welt
Lise und
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