Doktor Proktor verhindert den Weltuntergang
Bulle fanden Doktor Proktor in der Kellerwerkstatt des blauen Hauses. Er stand an seiner Werkbank und hämmerte wie ein Wilder auf die Sohlen seiner Balanceschuhe ein. Sein Gesicht hellte sich auf, als er sie sah.
»Kommt!«, sagte er, schob die Schwimmbrille in die Stirn und ging vor ihnen her in den Waschkeller. Dort angekommen platzierte er erst einen, dann den anderen Schuh auf einer Wäscheleine, die quer durch den Raum gespannt war. Und tatsächlich: Die Schuhe blieben auf der Leine stehen.
»Fantastisch!«, rief Bulle so fröhlich und gut gelaunt, dass Lise sich zweimal laut räuspern musste, bis ihm wieder einfiel, warum sie gekommen waren, und er sein Gesicht in die ernsten Falten legte, die dem Ernst der Situation angemessen war.
»Wir haben etwas über das Mondchamäleon gelesen«, sagte Lise.
Doktor Proktor sah sie entsetzt an. »Ihr habt … ihr habt … was gelesen?«
»Wir verstehen gut, dass Sie uns nichts davon erzählen wollten«, sagte Lise. »Das ist wirklich nichts für Kinder.«
»Aber wo um alles in der Welt habt ihr denn etwas über das Mondchamäleon gelesen?«
»In TIERE, DENEN DU NIE BEGEGNEN MÖCHTEST«, sagte Bulle, »Seite dreihundertfünfzehn.«
Doktor Proktor ließ sich auf einen Stuhl fallen: »Aber das Mondchamäleon war doch bloß ein Gerücht, das die Runde machte, als ich in Paris studiert habe, eine Gespenstergeschichte aus dem Jahre 1969, als die erste Mondrakete auf die Erde zurückkam. Das Gerücht besagte damals, die Astronauten hätten jemand mitgebracht. Oder etwas. Etwas Unsichtbares. Oder genauer gesagt, etwas, das sich wie alles Mögliche tarnen kann, sodass man es nicht sieht. Daher stammt auch der Name Mondchamäleon. Es hieß, dass es die schlimmsten Dinge anstellte, aber ich hatte das alles vergessen, bis ihr mir von dem unsichtbaren Wesen, der Sockenspur und den Sprachfehlern erzählt habt. Das passte alles, ich wollte euch aber keine Angst machen. Schließlich war das nur eine Gespenstergeschichte und Gespenster gibt es ja bekanntlich nicht wirklich.« Er sah zu Lise und Bulle auf. »Nicht wahr?«
Sie antworteten nicht.
Proktor knetete seine Hände. »Uiuiuiuiuih. Was genau stand in dem Buch?«
Bulle erzählte und Lise ergänzte, was er vergessen hatte.
»Abgesehen davon, dass es mit jedem Hintergrund verschmelzen kann, stiehlt es«, sagte Bulle. »Simpler, aber zielstrebiger Sockenklau. Es geht einfach zu den Leuten in die Häuser, schleicht sich mit Vorliebe an ihnen vorbei, wenn sie fernsehen, nimmt dabei die Gestalt der Wetterkarte oder eines Fußballplatzes ein und verschwindet schließlich im Waschkeller, wo es Socken aus der Waschmaschine klaut und überzieht. Das haben wir in der Turnhalle gesehen, nasse Sockenabdrücke.«
Doktor Proktor rieb sich das Kinn: »Das mit dem Sockenklau ist mir auch schon zu Ohren gekommen, ich glaube aber nicht wirklich daran.«
Bulle seufzte und zeigte auf Doktor Proktors Füße. »Sehen Sie doch, Sie tragen eine rote und eine blaue Socke. Können Sie mir das erklären?«
»Erklären, tja«, murmelte Doktor Proktor. »Mir fehlt halt eine rote Socke.«
»Eben, denn auf geheimnisvolle Weise ist eine rote Socke in der Waschmaschine verschwunden, war es nicht so?«
»Nein, die ist verbrannt, als ich den Toaster abtrocknen wollte.«
Lise lachte und Bulle stöhnte.
»Egal«, sagte er. »Jeden Tag verschwinden auf der ganzen Welt Socken. Ein ungelöstes Rätsel, das die betroffenen Menschen ausrufen lässt: Wo zum Henker ist denn diese … Aber weil es nur Socken sind, vergessen sie es oder denken nicht mehr darüber nach. Millionen von Socken! Myriaden von Fußbekleidungen! Galaxien von genähten, gestrickten, gehäkelten, karierten und gestreiften Socken!«
»Aber was soll denn … ein Mondwesen mit Socken und Strümpfen?«, fragte Proktor.
»Was glauben Sie«, fragte Bulle.
»Äh …«
»Kalte dicke Zehen«, sagte Bulle.
»Aber wären Schuhe da nicht besser?«
Bulle schnitt eine Grimasse.
»Diese Zehen sind nicht für Schuhe geschaffen, die Fußabdrücke beweisen doch, dass das Mondchamäleon die längsten, schärfsten und ungepflegtesten Zehennägel hat, die man sich vorstellen kann. Solche, die immer gleich Löcher in die Socken schneiden. Deshalb braucht es immer neue. Noch schlimmer ist aber, dass diese Wesen unüberwindlich sind, sie haben keine Schwäche, sieht man mal vom Buchstabieren von Doppelkonsonanten ab.«
»Was?«, platzte Proktor hervor.
Lise räusperte sich: »Laut TIERE, DENEN DU NIE
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