Dolce Vita, süßer Tod: Kriminalroman (Inspektor Stucky) (German Edition)
Treppenstufen waren für einen Blinden zu glatt poliert. Aber er war nicht der Typ, der stolperte. Stucky war aufrichtig überrascht, als er die strenge Frau sah, die ihn in das Zimmer führte. Malaga hatte also eine Hausdame, eine Zuwendung von seiner Familie, ebenso wie die Wohnung und die Einrichtung aus kostbarem Holz, die makellosen Balken, die Perserteppiche und die Porzellangegenstände. Signor Malaga saß auf einem Sofa, neben ihm der kleine Ali.
Das Ganze wirkte nicht wie eine Umgebung für Blinde; die Möblierung musste noch aus der Zeit vor dem Unfall stammen, und Malaga hatte wohl gewollt, dass alles an seinem Platz blieb.
»Ciao, Ali«, sagte Stucky.
»Du darfst dem Signore ruhig antworten«, sagte Malaga und stieß den Jungen an.
» Buongiorno , Signore.«
»Weißt du, dass ich nach dir gesucht habe?«
Ali, der glaubte, dass der Inspektor es nicht sehen konnte, zwickte den Blinden ins Bein.
»Ich habe dich gesucht, aber du warst hier, ganz bequem, im Haus von Signor Malaga. Ein schönes Haus, wirklich. Jedenfalls habe ich dich gesucht wegen der Fotos … Signor Malaga hatte dir doch Bescheid gesagt, oder?«
Ali nickte.
»Aber jemand hat sie haben wollen. Habe ich recht?«
»Ja, Signore.«
»Es war der Journalist vom Gazzettino «, mischte sich Malaga ein.
»Dann haben Sie sich vom Journalisten interviewen lassen, und während Sie plauderten, ist Ihnen herausgerutscht, dass Inspektor Stucky, der Typ aus dem Polizeipräsidium, der seine Nase in alles steckt, die Fotos haben wollte, die Sie Ali haben knipsen lassen …«
»Ja, ungefähr so …«
»Der Journalist wird gedacht haben, dass die Fotos irgendwelche wichtigen Hinweise enthalten könnten, und hat zu Ihnen gesagt: Wenn ich mir davon eine Kopie mache, könnte es einen Knüller geben …«
»Sie haben uns abgehört!«
»Er wird Sie gebeten haben: ›Schick mir Ali, ich mach mir eine Kopie von den Fotos, und dann geben wir sie dem Inspektor so, als wäre nichts gewesen.‹ Oh, oh! Diese Journalisten …«
»Aber dieser Mann ist böse!«, unterbrach ihn Ali.
»Er hat sich die Fotos aushändigen lassen und sie noch nicht zurückgegeben.«
»So ist es.«
»Und Sie haben es nicht nur nicht für nötig gehalten, mich zu informieren, Sie haben auch noch Ali versteckt …«
»Diese Geschichte wird …«
»Jawohl, Signor Malaga, diese Geschichte wird ein Ende haben! Aber nicht dank göttlicher Intervention. Auch wenn Weihnachten vor der Tür steht.«
21. D EZEMBER
Stucky war sehr früh zu Bett gegangen. Er fühlte sich völlig ausgelaugt und hatte Mühe gehabt, überhaupt in seinen Pyjama zu schlüpfen; die Beine waren ihm plötzlich schwer und dann weich geworden, und er war wie ein Betrunkener herumgetorkelt. Er spürte den Januar näher rücken, den schlimmsten Monat des Jahres. Sein Biorhythmus oder irgendeine besondere Konstellation der Gestirne lenkte ihn auf eine Spur übler Laune und Verdrießlichkeit, ein paar Knochen knirschten, dazu die Schlaflosigkeit, die ihm die Nacht raubte und ihn mit Bildern überfrachtete, die er nicht loswerden konnte. Vielleicht war es das Gefühl, am Ziel zu sein, und er wusste genau, wie sehr er diesen Augenblick verabscheute, diese grässliche Engstelle, in der sich die ganze Angelegenheit auf die traurige Erkenntnis reduzierte, dass ein Leben aufgrund irgendeiner menschlichen Schwäche ausgelöscht worden war.
Am folgenden Tag war er noch früher unterwegs als die Müllabfuhr. Der Morgen war trocken und nicht wirklich kalt. Stucky befand sich bereits auf der Piazza Borsa und ging, unruhig wie eine Schneeflocke, im Licht der Straßenlaternen auf und ab, als er die Gespenster der Straßenreinigung auftauchen sah, die an den hinteren Trittbrettern klebten und alle ihren phosphoreszierenden BENVENUTO -Pass trugen. Ein Sprung auf den Boden, und schon flog der Sack in den mahlenden Rachen. Und fort waren sie, wie frierende Glühwürmchen.
Der Inspektor setzte sich auf ein Mäuerchen und folgte mit den Blicken den rot schimmernden Rücklichtern der Lkws auf ihrem Weg durch die Altstadtgassen.
Ihm gefielen die Fußgängerstädte, ein lebendiger Strom von Schuhen und Mänteln. Wenn er sich wirklich frei eine Beschäftigung hätte aussuchen können, hätte er, wenn es denn so etwas gäbe, den Beruf des Menschenbeobachters gewählt. Sich Gesichter, Kleider, Gangarten eingeprägt. Ja, er hätte am Tag und am Abend, niemals in der Nacht, jeden beobachtet, ohne Vorurteile, jeden, ohne Rücksicht auf Alter
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