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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Arbeit gedrückt, und ich habe auch nicht vor Dingen zurückgescheut, die getan werden mußten, selbst wenn sie grauenhaft waren. Vera hatte recht, als sie sagte, manchmal müßte man ein Luder sein, wenn man überleben will; aber ein Luder zu sein ist Schwerarbeit, das kann ich der ganzen Welt versichern, und ich hatte es so satt. Ich wollte Schluß machen, und mir kam der Gedanke, daß es noch nicht zu spät war, diese Stufen wieder runterzusteigen, und daß ich diesmal nicht auf der letzten zu bleiben brauchte - nicht, wenn ich es nicht wollte.
    Und da hörte ich sie wieder, Andy - Vera. Ich hörte sie wie damals an dem Abend neben dem Brunnen, nicht in meinem Kopf, sondern in meinem Ohr. Nur war es diesmal viel gespenstischer, das kann ich euch versichern; damals, 1963, hatte sie wenigstens noch gelebt.
    »Was ist das für eine absurde Idee, Dolores«, sagte sie mit ihrer herablassenden Stimme. »Ich habe einen höheren Preis bezahlt als Sie; ich habe einen höheren Preis bezahlt, als irgendjemand sich vorstellen kann, aber ich habe trotzdem mit dem Handel gelebt, den ich abgeschlossen hatte. Ich habe noch mehr getan als das. Nachdem mir nichts geblieben war als die Staubflocken und die Träume von dem, was hätte sein können, nahm ich die Träume und machte sie mir zu eigen. Die Staubflocken? Nun, ich wußte, sie würden mir vielleicht eines Tages den Rest geben, aber ich habe viele Jahre mit ihnen gelebt, bevor sie es schließlich taten. Und jetzt müssen Sie mit den Ihren fertigwerden. Aber wenn Sie den Mut verloren haben, den Sie damals hatten, als Sie mir sagten, es wäre eine Gemeinheit gewesen, dieses Jolander-Mädchen vor die Tür zu setzen, dann steigen Sie nur wieder hinunter. Steigen Sie hinunter und springen Sie. Denn ohne Ihren Mut, Dolores Claiborne, sind Sie nur noch ein dummes altes Weib.«
    Ich wich zurück und sah mich um, aber vor mir lag nur East Head, dunkel und naß von der Gischt, die an windigen Tagen durch die Luft fliegt. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Ich stand noch eine Weile da und sah den Wolken nach, die über den Himmel jagten ich sehe ihnen gerne nach, sie sind so hoch und frei und stumm, wenn sie da oben hinziehen. Dann machte ich mich auf den Heimweg. Unterwegs mußte ich zwei- oder dreimal stehenbleiben, weil ich nach dem langen Sitzen in der feuchten Luft fürchterliche Rückenschmerzen hatte. Aber ich schaffte es. Als ich wieder zuhause war, nahm ich drei Aspirin, stieg in meinen Wagen und fuhr direkt hierher.
    Und das war’s.
    Nancy, ich sehe, du hast fast ein Dutzend von diesen kleinen Kassetten vor dir liegen, und dieses hübsche kleine Gerät muß ziemlich geschafft sein. Ich bin es jedenfalls, aber ich war gekommen, um zu sagen, was ich zu sagen hatte. Und das habe ich getan. Jedes Wort davon ist wahr. Jetzt kannst du mit mir machen, was du für richtig hältst, Andy; ich habe meinen Teil getan und meinen Frieden mit mir gemacht. Das allein ist wichtig: genau zu wissen, wer man ist. Ich weiß, wer ich bin: Dolores Claiborne, zwei Monate vor meinem fünfundsechzigsten Geburtstag, Mitglied der Demokratischen Partei, zeitlebens Einwohnerin von Little Tall Island.
    Zwei Dinge möchte ich noch sagen, Nancy, bevor du auf die Stopptaste drückst. Letzten Endes sind es die Luder dieser Welt, die es schaffen - und was die Staubflocken angeht: zum Teufel mit ihnen!

LOKALNACHRICHTEN
    Aus dem Ellsworth American, 6. November 1992 (Seite 1) 

    Inselbewohnerin freigesprochen

    Dolores Claiborne von Little Tall Island, viele Jahre lang Angestellte von Mrs. Vera Donovan, gleichfalls von Little Tall, wurde gestern bei einer in Machias abgehaltenen Anhörung von jeder Schuld am Tode von Mrs. Donovan freigesprochen. Zweck der Anhörung war, festzustellen, ob Mrs. Donovan eines »ungesetzlichen Todes« gestorben war, das heißt, eines Todes infolge von Vernachlässigung oder einer kriminellen Handlung. Gerüchte über Miss Claibornes Anteil am Tode ihrer Arbeitgeberin wurden ausgelöst von der Tatsache, daß Mrs. Donovan, die zur Zeit ihres Todes senil gewesen sein soll, ihrer Haushälterin und Gesellschafterin den größten Teil ihres Vermögens hinterlassen hat. Einige Quellen schätzen diese Hinterlassenschaft auf mehr als zehn Millionen Dollar.

    Aus dem Boston Globe, 20. November 1992 (Seite 1)

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