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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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daß es so kommen würde. Ich habe nur wesentlich länger gebraucht, um in meine Grube zu fallen, als Joe brauchte, um in seine zu fallen.
    Auch Vera hatte eine Grube zum Hineinfallen - und wenn es etwas gibt, wofür ich dankbar bin, dann ist es dies: daß ich nicht meine Kinder ins Leben zurückträumen mußte wie sie. Aber wenn ich am Telefon mit Selena spreche und höre, wie sie ihre Worte ineinanderschlurrt, frage ich mich manchmal, ob überhaupt einer von uns dem Schmerz und Kummer unseres Lebens entfliehen kann. Sie konnte ich nicht reinlegen, Andy. Schande für mich. 
    Trotzdem nehme ich, was ich kriegen kann, und beiße die Zähne zusammen, so daß es aussieht wie ein Lächeln, gerade so, wie ich es immer getan habe. Ich versuche, mir klarzumachen, daß zwei meiner drei Kinder noch am Leben sind, daß sie Positionen erreicht haben, die weit über das hinausgehen, womit irgendjemand auf Little Tall gerechnet hat, als sie noch klein waren, und auch über das, was vielleicht aus ihnen geworden wäre, wenn ihr Nichtsnutz von einem Vater nicht am Nachmittag des 20. Juli 1963 einen Unfall gehabt hätte. Das Leben ist nämlich keine Sache des Entweder-Oder, und wenn ich je vergessen sollte, dankbar dafür zu sein, daß meine Tochter und einer meiner Söhne am Leben geblieben sind, während Veras Sohn und Tochter starben, dann würde ich mich, wenn ich vor den Thron des Allmächtigen trete, für die Sünde der Undankbarkeit verantworten müssen. Und das möchte ich nicht. Ich habe auch so schon genug auf dem Gewissen - und wahrscheinlich auch auf meiner Seele. Und jetzt hört mir genau zu, ihr alle drei; selbst wenn ihr sonst nichts mitgekriegt habt, das müßt ihr mitkriegen: a lles, was ich tat, habe ich aus Liebe getan - aus der Liebe, die eine Mutter für ihre Kinder empfindet. Das ist die mächtigste Liebe, die es auf der Welt gibt, und zugleich ist es die tödlichste. Es gibt kein schlimmeres Luder als eine Mutter, die Angst um ihre Kinder hat. 
    Als ich das obere Ende der Treppe erreicht hatte und auf dem Absatz hinter dem Absperrseil stand und aufs Meer hinausschaute, da dachte ich an den Traum, in dem Vera mir Teller zureichte und ich sie alle fallen ließ. Ich dachte an das Geräusch, das der Stein gemacht hatte, als er sein Gesicht traf - und daran, daß die beiden Geräusche ein und dasselbe gewesen waren.
    Aber vor allem dachte ich an Vera und mich - zwei verdammte Luder, die auf einem kleinen Felsbrocken vor der Küste von Maine lebten, in den letzten Jahren fast immer zusammen. Ich dachte daran, wie diese beiden Luder zusammen schliefen, wenn das ältere Angst hatte, und wie sie all die Jahre in diesem großen Haus lebten, zwei Luder, die schließlich den größten Teil ihrer Zeit damit verbrachten, sich gegenseitig das Leben schwer zu machen. Ich dachte daran, wie sie mich reingelegt hatte, und wie ich es schaffte, sie meinerseits reinzulegen, und wie selig jede von uns war, wenn sie eine Runde gewonnen hatte. Ich dachte daran, wie sie gewesen war, wenn die Staubflocken über sie herfielen, wie sie geschrien und gezittert hatte wie ein Tier, in die Enge getrieben von einem größeren Geschöpf, das vorhat, es in Stücke zu reißen. Ich erinnere mich, wie ich mich zu ihr ins Bett legte und die Arme um sie schlang und fühlte, wie sie zitterte, wie ein dünnes Glas, das jemand mit dem Griff eines Messers angeschlagen hat. Ich spürte ihre Tränen an meinem Hals, und ich bürstete ihr dünnes, trockenes Haar und sagte: »Ruhig - ganz ruhig. Die verdammten Staubflocken sind weg. Ihnen kann nichts passieren. Ich passe auf.«
    Aber wenn mir etwas klargeworden ist, Andy, dann ist es das, daß sie nie wirklich weg sind. Man glaubt, man hätte sie alle weggefegt und es wäre nirgendwo auch nur eine einzige Staubflocke, und dann sind sie wieder da, sie sehen aus wie Gesichter, sie sehen immer aus wie Gesichter, und es sind immer die Gesichter, die man niemals wiedersehen wollte, weder im Wachen noch im Traum.
    Ich dachte auch daran, wie sie da auf der Treppe lag und sagte, sie hätte es satt, sie wollte Schluß machen. Und als ich da in meinen nassen Galoschen auf diesem morschen Treppenabsatz stand, wußte ich sehr gut, weshalb ich mich dafür entschieden hatte, diese Stufen zu betreten, die so verrottet sind, daß nicht einmal die Gören darauf spielen, wenn die Schule aus ist. Ich hatte es auch satt. Ich hatte mein Leben gelebt, so gut ich es unter meinen Verhältnissen konnte. Ich habe mich nie vor einer

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