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Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Westen gewesen, Josefina der Osten, Rosa der Süden und la Gorda der Norden. Die andere Alternative bestand darin, unsere Richtung zu ändern und uns nach Süden zu kehren, ohne uns aber umzudrehen. Diese Alternative war der Weg der Kraft, und sie verlangte, daß wir unser zweites Gesicht aufsetzten. Ich sagte zu la Gorda, ich verstünde nicht, was sie mit unserem zweiten Gesicht meinte.
    »Der Nagual hat mir auf getragen«, sagte sie, »unser aller zweite Aufmerksamkeit zusammenzubündeln; jeder Toltekenkrieger hat zwei Gesichter, und er blickt in zwei Richtungen. Das zweite Gesicht ist die zweite Aufmerksamkeit.« Auf einmal lockerte la Gorda ihren Griff. Die anderen machten es ebenso. Sie setzte sich und forderte mich auf, mich neben sie zu setzen. Die Schwesterchen blieben stehen. La Gorda fragte mich, ob mir alles klar sei. Das war es - und doch auch wieder nicht. Aber bevor ich Zeit fand, eine Frage zu stellen, platzte sie heraus: »Eines der letzten Dinge, die der Nagual mir auftrug, dir zu sagen, ist dies: Du mußt deine Richtung ändern, indem du deine zweite Aufmerksamkeit mit der von uns allen verbindest. Und du mußt dein Gesicht der Kraft aufsetzen, um zu sehen, was hinter dir ist.« La Gorda stand auf. Sie gab mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie führte mich zur Tür ihres Zimmers. Sie schob mich sachte voran. Kaum hatte ich die Schwelle überschritten, folgten mir Lidia, Rosa und Josefina - in dieser Reihenfolge -, und dann schloß la Gorda die Tür.
    Im Zimmer war es dunkel. Anscheinend hatte es keine Fenster. La Gorda ergriff meinen Arm und schob mich, wie mir schien, in die Mitte des Zimmers. Sie alle umringten mich. Ich konnte sie nicht sehen; ich spürte nur, daß sie mich an allen vier Seiten flankierten.
    Nach einer Weile hatten meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt. Jetzt sah ich, daß das Zimmer zwei Fenster hatte, die aber mit Fensterläden verschlossen waren. Es fiel aber etwas Licht herein, und ich konnte jede der Frauen erkennen. Sie hielten mich fest, wie sie es vor ein paar Minuten getan hatten, und gleichzeitig drückten sie ihre Köpfe gegen meinen. Von allen Seiten spürte ich ihren warmen Atme. Ich schloß die Augen, um mich an das Bild zu erinnern, das ich angegafft hatte. Aber es gelang mir nicht. Ich war sehr müde und schläfrig. Meine Augen juckten entsetzlich. Ich wollte mir die Augen reiben, aber Lidia und Josefina hielten meine Arme fest.
    In dieser Haltung blieben wir lange stehen. Meine Müdigkeit wurde unerträglich, und schließlich sackte ich zusammen. Mir war, als gäben meine Knie nach. Ich glaubte, ich würde zusammenbrechen und am Fußboden einschlafen. Aber da war kein Fußboden mehr. Tatsächlich - unter mir war nichts. Als ich dies erkannte, bekam ich solche Angst, daß ich augenblicklich erwachte; eine Kraft, stärker als meine Angst, stieß mich jedoch wieder in jenen schläfrigen Zustand zurück. Ich gab mich auf. Ich schwebte mit den anderen - wie ein Ballon. Es war, als sei ich eingeschlafen und träumte, und in diesem Traum sah ich eine Folge von zusammenhanglosen Bildern. Jetzt befanden wir uns nicht mehr im Zimmer der Frauen. Da war so viel Licht, daß es mich blendete. Manchmal sah ich Rosas Gesicht vor mir; im Augenwinkel sah ich auch Lidias und Josefinas Gesichter. Ich spürte ihre Köpfe gegen meine Ohren drücken. Und dann änderte sich das Bild, und ich sah la Gordas Gesicht vor mir. Immer wenn dies geschah, drückte sie ihren Mund auf meinen und atmete heftig. Das gefiel mir überhaupt nicht. Irgend etwas in mir suchte sich loszureißen. Ich geriet in Panik. Ich versuchte sie alle wegzustoßen. Je mehr ich's versuchte, desto fester hielten sie mich. Dies brachte mich zur Überzeugung, daß la Gorda mich mit einem Trick in eine tödliche Falle geführt hatte. Doch im Gegensatz zu den anderen hatte la Gorda sich als makellose Spielerin gezeigt. Der Gedanke, daß sie ein sauberes Spiel gespielt hatte, tröstete mich und ich fühlte mich besser. Jetzt hatte ich keine Lust mehr, mich zu wehren. Ich wurde neugierig auf den Moment meines Todes, der, wie ich glaubte, unmittelbar bevorstand, und ich ließ mich fallen. Da erlebte ich eine namenlose Freude, einen Überschwang, der — dessen war ich mir sicher — der Vorbote meines Endes, wenn nicht das Ende selbst war. Ich zog Lidia und Josefina näher an mich heran. In diesem Augenblick war la Gorda wieder vor mir. Es machte mir nichts mehr aus, daß sie in meinen Mund atmete; ich war sogar

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