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Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Bäume und Steine zu gaffen. Jetzt schaue ich die Dinge selbst nicht mehr an. Ich schaue nur auf ihre Schatten.
    Auch wenn es überhaupt kein Licht gibt, gibt es Schatten; sogar in der Nacht gibt es Schatten. Und weil ich eine Schatten-Gafferin bin, bin ich auch Fern- Gafferin. Ich kann sogar in der Ferne Schatten gaffen.
    Am frühen Morgen erzählen die Schatten nicht viel. Um diese Zeit ruhen die Schatten. Es hat also keinen Zweck, in der Frühe zu gaffen. Gegen sechs Uhr morgens erwachen die Schatten, aber am besten sind sie gegen fünf Uhr nachmittags. Dann sind sie voll wach.«
    »Was erzählen die Schatten dir«
    »Alles, was ich wissen will. Sie erzählen mir alles, weil sie Wärme oder Kälte haben oder weil sie sich bewegen - oder weil sie Farbe haben. Ich weiß noch nicht all das, was Farben und Wärme und Kälte bedeuten. Der Nagual überließ es mir selbst, dies zu lernen.«
    »Und wie lernst du es?«
    »Beim Träumen! Träumer müssen gaffen, um zu träumen, und dann müssen sie beim Gaffen nach dem Geträumten suchen. So zum Beispiel ließ der Nagual mich auf die Schatten der Steine gaffen, und dann fand ich beim Träumen, daß diese Schatten Licht hatten; von da an suchte ich also nach dem Licht in den Schatten, bis ich es gefunden hatte. Gaffen und Träumen gehören zusammen. Ich mußte viel auf Schatten gaffen, um schließlich von Schatten zu träumen; und dann mußte ich viel träumen und gaffen, um die beiden Dinge zusammenzubringen und in den Schatten wirklich zu sehen, was ich in meinen Träumen sah. Siehst du, was ich meine? Wir alle tun das gleiche: Rosas Träumen handelt von Bäumen, denn sie ist eine Baum-Gafferin, und Josefina träumt von Wolken, denn sie ist eine Wolken-Gafferin. Sie gaffen auf Bäume und Wolken, bis sie in ihren Träumen dasselbe finden.«
    Rosa und Josefina nickten zustimmend. »Und wie ist es bei la Gorda?« fragte ich. »Sie ist eine Floh-Gafferin«, sagte Rosa, und alle lachten. »La Gorda haßt es, von Flöhen gebissen zu werden«, erklärte Lidia. »Sie ist formlos und kann alles angaffen, aber früher war sie eine Regen-Gafferin.«
    »Und wie ist's bei Pablito?«
    »Er gafft den Frauen auf den Arsch«, antwortete Rosa mit todernstem Gesicht.
    Sie lachten. Rosa schlug mir auf die Schulter. »Ich weiß, er ist dein Partner, darum schlägt er dir nach«, sagte sie.
    Sie schlugen vor Lachen mit den Fäusten auf den Tisch und traten mit den Füßen gegen die Bänke.
    »Pablito ist ein Stein-Gaffer«, sagte Lidia. »Nestor ist ein Regen-und Pflanzen- Gaffer, und Benigno ist ein Fern-Gaffer. Aber frag mich nicht mehr übers Gaffen, denn ich verliere meine Kraft, wenn ich dir mehr erzähle.«
    »Wie kommt es, daß la Gorda mir alles sagt?«
    »La Gorda hat ihre Form verloren«, erwiderte Lidia.
    »Wenn ich die meine jemals verliere, werde auch ich dir alles sagen. Aber dann wirst du's nicht mehr wissen wollen. Du willst es nur wissen, weil du genauso dumm bist wie wir. An dem Tag, da wir unsere Form verlieren, werden wir alle nicht mehr dumm sein.«
    »Warum stellst du so viele Fragen, wenn du doch alles weißt«, fragte Rosa.
    »Weil er genauso ist wie wir«, sagte Lidia. »Er ist kein echter Nagual. Er ist noch ein Mensch.«
    Sie drehte sich um und schaute mich an. Einen Moment verhärteten sich ihre Züge, ihre Augen blickten durchdringend und kalt, aber als sie dann zu mir sprach, wurde ihre Miene wieder freundlich.
    »Du und Pablito, ihr seid Partner«, sagte sie. »Du bist wirklich genau wie er, nicht war?«
    Ich überlegte eine Weile, bevor ich antwortete. Dann räumte ich ein, daß ich ihm wie selbstverständlich vertraute, ja daß ich mich ohne einsichtigen Grund ihm verwandt fühlte. »Du liebst ihn so sehr, daß du ihn gefoult hast«, sagte sie vorwurfsvoll. »Damals, auf jenem Berggipfel, als ihr springen solltet, war er im Begriff, selbst seine zweite Aufmerksamkeit zu finden, aber du hast ihn gezwungen, mit dir zu springen.«
    »Ich habe ihn nur gestützt«, protestierte ich.
    »Ein Zauberer stützt keinen anderen Zauberer«, sagte sie. »Jeder von uns ist recht selbständig. Du brauchst uns nicht, um dir helfen zu lassen. Nur ein Zauberer, der sieht und formlos ist, kann dir helfen. Beim Sprung von jenem Berggipfel solltest du zuerst springen. Jetzt aber ist Pablito an dich gefesselt. Ich glaube, du hast die Absicht, uns genauso zu helfen. Mein Gott - je mehr ich über dich nachdenke, desto mehr verachte ich dich.« Rosa und Josefina murmelten zustimmend.

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