Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft
Vollständigkeit erreicht und deine Form verloren hast, wirst du schweben.«
Benigno imitierte mit der Hand ein fliegendes Flugzeug und ahmte mit seiner donnernden Stimme das Röhren des Motors nach. Es war ohrenbetäubend.
Alle lachten. Die Schwesterchen schienen sich besonders zu ergötzen.
Erst jetzt wurde mir so recht bewußt, daß bereits später Nachmittag war. Wir hatten anscheinend stundenlang geschlafen, bemerkte ich zu la Groda, denn wir waren kurz vor Mittag in ihr Zimmer gegangen.
»Wir haben keineswegs lange geschlafen«, sagte sie. »Die meiste Zeit irrten wir durch jene andere Welt, und die Genaros waren echt in Angst und in Sorge, denn sie konnten nichts tun, um uns zurückzuholen.«
Ich wandte mich an Nestor und fragte ihn, was sie eigentlich getan oder gesehen hatten, während wir fort waren. Er starrte mich eine Weile an, bevor er antwortete.
»Wir holten jede Menge Wasser in den Hof«, sagte er und deutete auf mehrere leere Ölfässer. »Dann kamt ihr in den Hof gestolpert, und wir begossen euch mit Wasser. Das ist alles.«
»Kamen wir aus dem Zimmer?« fragte ich ihn. Benigno lachte laut heraus. Nestor schaute la Gorda an, als erheische er ihren Rat oder ihre Erlaubnis zu antworten. »Kamen wir aus dem Zimmer?« fragte la Gorda. »Nein«, antwortete Nestor.
La Gorda war offenbar nicht minder neugierig als ich, und dies beunruhigte mich. Sie drängte Nestor sogar, er solle sprechen. »Ihr kamt von nirgendwo«, sagte Nestor. »Und ich muß sagen, es war beängstigend. Ihr alle wart - wie Nebel. Pablito sah euch zuerst. Vielleicht wart ihr schon länger im Hof, aber wir wußten nicht, wo wir euch suchen sollten. Dann schrie Pablito auf, und wir sahen euch. So was haben wir noch nie gesehen.«
»Wie sahen wir aus?« fragte ich.
Die Genaros schauten sich an. Es folgte ein unerträglich langes Schweigen. Die Schwesterchen starrten Nestor offenen Mundes an. »Ihr war wie ... wie in einem Netz gefangene Nebelschwaden«, sagte Nestor. »Dann begossen wir euch mit Wasser, und ihr wurdet wieder fest.«
Ich wollte, daß er noch mehr erzählte, aber la Gorda meinte, wir hätten nur noch wenig Zeit, denn ich müsse gegen Abend aufbrechen, und sie habe mir noch so vieles zu sagen. Die Genaros standen auf und schüttelten la Gorda und den Schwesterchen die Hand. Sie umarmten mich und sagten, sie brauchten nur noch ein paar Tage, bis sie bereit wären fortzugehen. Pablito legte sich seinen Stuhl umgekehrt auf die Schultern. Josefina rannte zum Herd, schleppte ein Bündel herbei, das sie aus Dona Soledads Haus mitgebracht hatte, und befestigte es zwischen den Beinen von Pablitos Stuhl, der ein ideales Traggestell bildete. »Da ihr sowieso nach Hause geht, kannst du auch das da mitnehmen«, sagte sie. »Es gehört sowieso dir.« Pablito zuckte die Schultern und rückte seinen Stuhl zurecht, um die neue Last ins Gleichgewicht zu bringen. Nestor bedeutete Benigno, er solle das Bündel tragen, aber Pablito ließ es nicht zu. »Ist schon gut«, sagte er.
»Solange ich diesen verfluchten Stuhl rumschleppe, kann ich auch den Packesel spielen.«
»Warum schleppst du ihn überhaupt mit, Pablito?« fragte ich. »Ich muß meine Kraft speichern«, antwortete er. »Ich kann nicht durch die Gegend laufen und mich überall hinsetzen. Wer weiß, welche dumme Kuh vor mir dort saß.«
Er lachte und schüttelte sich, so daß das schwere Bündel auf seinem Rücken schwankte.
Nachdem die Genaros gegangen waren, erklärte la Gorda mir, daß Pablito die Sache mit seinem Stuhl ursprünglich nur angefangen hatte, um Lidia zu hänseln. Er wollte sich nirgends hinsetzen, wo sie vorher gesessen hatte, aber dann fuhr er auf seiner verrückten Masche ab, und seither ließ er sich darart gehen, daß er nur noch auf seinem Stuhl sitzen wollte. »Er ist imstande und schleppt ihn durchs ganze Leben«, sagte la Gorda mit Bestimmtheit. »Er ist fast so schlimm wie du. Er ist ja auch dein Partner; du wirst dein Schreibzug durchs Leben schleppen, und er seinen Stuhl. Wo ist da der Unterschied? Ihr beide laßt euch schlimmer gehen als wir anderen.« Die Schwesterchen umringten mich lachend und klopften mir den Rücken. »Es ist schwer genug, die zweite Aufmerksamkeit zu erreichen.
Und noch schwerer ist es, mit ihr fertig zuwerden, wenn man sich so gehen läßt sie du. Dabei sagte der Nagual, daß du eigentlich besser als wir wissen solltest, wie schwer es ist, sie zu beherrschen. Mit Hilfe seiner Kraftpflanzen hast du doch gelernt, sehr
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