Winter auf Italienisch
Kapitel 1
Gleich hinter dem Tunnel begann eine
andere Welt. Meine Welt. »Valle d‘ Aosta« stand auf dem braunen Schild. Noch
ein paar Kurven, dann sah ich auch schon die kleine Haltbebucht. Ich lächelte.
Nichts hatte sich verändert. Ich drosselte die Geschwindigkeit und ließ meinen
roten Golf ausrollen. Das Radio hatte endlich wieder Empfang, noch schwach, aber
eindeutig italienische Stimmen drangen aus den kleinen Boxen. Ich ließ das
Fenster herunter, sog kühle Winterluft tief in meine Lungen ein. Den Geruch von
Winter, den ich ebenso mochte wie den der anderen Jahreszeiten. Jede Saison
hatte ihren eigenen Duft. Man musste nur ausreichend zur Ruhe kommen, um ihn
wahrzunehmen. Nur hier war mir das möglich. Hier und jetzt, in der
unbefestigten Haltebucht, rechts neben mir der Abhang. Was für ein Ausblick!
Meine Freundin hieß Mafalda. Ein
komischer Name, selbst für Italiener. Doch er passte zu ihr und ihrer klobigen
Brille, den stechend grünen, immer vergnügt dreinblickenden Augen, der
rotgefärbten Igelfrisur und den bunten Stumpfhosen, die sie ständig trug. Keine
Ahnung, wo sie die auftrieb. Sicher nicht hier.
Ich lernte sie vor vier Jahren über das
italienische Kulturinstitut kennen. Ich war in der 11. Klasse und hatte als
Wahlpflichtkurs Italienisch gewählt. Leider fiel mir das Erlernen dieser
Sprache nicht ganz so leicht, wie ich es mir erhofft hatte. Also spendierte mir
meine Mutter zusätzlich einen Abendkurs im »Istituto Italiano di Cultura«, wo
es mir aufgrund der späten Stunde auch nicht besser erging. Eines Abends -
Signora Trappanella, meine Lehrerin, stand kurz vor der Kapitulation - schickte
sie mich zum italienischen Generalkonsulat. Dort sollte ich mich bei
einem Signor Rosario melden, der über eine Kartei schreibwilliger Italiener
verfügte, denen das Erlernen der deutschen Sprache offenbar ebensolche
Schwierigkeiten bereitete, wie mir die ihre.
Nachdem ich endlich bei Signor Rosario
angekommen war, und er auch noch verstanden hatte, was ich von ihm wollte - man
sprach hier konsequent nur Italienisch - wühlte er einen Moment lang in seinen
Schreibtischschubladen herum, beförderte einen Schnellhefter zutage, blätterte
geschäftig darin herum, kratzte sich am Kopf und kritzelte schließlich die
Adresse einer gewissen Mafalda Caruso auf einen Notizzettel.
So setzte ich mich eines tristen Sonntags
in mein Zimmer und begann mühevoll, italienische Sätze zu Papier zu bringen.
Mehr als eine Seite wurde es nicht, aber dafür war das Briefpapier ganz schön.
Fand ich jedenfalls.
Es dauerte fast zwei Wochen, ehe ich eine
Antwort bekam, die mich ziemlich in Aufregung versetzte: Plötzlich war das
nicht mehr nur eine zähe Sprache, sondern sie bekam einen Sinn. Der Umschlag
war türkisgrün, mit silbernen Herzen und pinkfarbenen Blumenranken verziert.
Was mich am meisten faszinierte, war die echt italienische Briefmarke, die eben
wirklich ausländisch wirkte. Ich will nicht lügen, aber ein bisschen duftete
der Brief auch nach Italien. Nur wusste ich damals noch nicht genau, wie
Italien riecht.
Mafalda schrieb auf Deutsch und man sah
sofort, dass sie in ihren Zeilen ebenso viel harte Arbeit gesteckt hatte, wie
ich zuvor in meine. Aber es lohnte sich. Wir schrieben uns regelmäßig, und mit
der Zeit wurden unsere Briefe länger. Wir lernten tatsächlich. Einer brachte
dem anderen seine Sprache nahe. Und nicht nur das: Wir lernten, wie der andere
lebte, dachte und fühlte. Wir befassten uns unbewusst mit einer ganzen Kultur.
Ein Jahr später verbrachte Mafalda den italienischen Ferienmonat August bei
Mama und mir. Und schon im darauffolgenden Herbst besuchte ich sie zum ersten
Mal in Aosta. Sie lebte mit ihren Eltern, zwei Schwestern und ihrem Bruder
Giacomo in einem Mehrfamilienhaus am Rande der Stadt, die sich mitten ins
Aostatal schmiegte. Ich hatte nie zuvor von diesem Ort gehört. Italien, das bedeutete
für mich Sonne, Meer und Nudeln mit Tomatensoße und Basilikum. Na gut: Pizza
auch noch. Berge, Schnee und weite Täler dagegen verband ich mit Österreich und
der Schweiz.
Letztere hatte ich gerade eben zum achten
Mal durchquert. Wann immer ich Urlaub hatte und mein nicht gerade üppiges
Ausbildungsentgelt es mir erlaubte, setzte ich mich in meinen Golf. Zum Glück
wohnte ich noch bei meiner Mutter und musste nichts abgeben, weil sie total glücklich
über mein Hobby Italien war. Ich
bretterte dann gute neun Stunden
über Deutschlands
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